2020 wurde der von der Interessengruppe Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie und Psychotherapie ins Leben gerufene Dissertationspreis an Maren Katharina Wallrath (geb. Frerker) der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Trier verliehen.
Frau Wallrath analysierte in ihrer hervorragenden Dissertation mit dem Titel „Schmerzbezogenes Elternverhalten – Welche Faktoren modulieren die elterlichen Reaktionen auf kindliche Schmerzen?“ elterliche Reaktionen auf kindliche Schmerzen hinsichtlich modulierender Faktoren auf Eltern- und Kindebene sowie ihrer Bedeutung in der familialen Transmission und Chronifizierung kindlicher Schmerzen.
Wir gratulieren der diesjährigen Preisträgerin ganz herzlich!
Im folgenden Interview erfahren Sie mehr über die Ergebnisse der Arbeit von Frau Wallrath:
- Liebe Frau Wallrath, in Ihrer Dissertation beschäftigen Sie sich mit dem Thema „chronische Schmerzen“ bei Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern. Was genau versteht man denn unter chronischen Schmerzen? Und wie häufig treten diese bei Kindern und Jugendlichen auf?
Grundsätzlich ist es wichtig, zwischen akuten Schmerzen (ausgelöst durch eine akute körperliche Ursache, wie zum Beispiel ein Schnitt in den Finger) und chronischen Schmerzen, das heißt psychosomatisch bedingten Schmerzen ohne körperliche Ursache, zu unterscheiden. Man kennt so etwas beispielsweise in Form von sogenannten „Angstbauchschmerzen“ – wenn ein Kind morgens vor der Schule über Bauchschmerzen klagt und sich dann herausstellt, dass am Tag eine Matheklausur ansteht, die Bauchschmerzen in diesem Fall also nicht auf eine körperliche Ursache, sondern auf die Angst vor der Klausur zurückzuführen sind.
Es gibt im Hinblick auf chronische Schmerzen unterschiedliche Definitionen, wobei sich die Unterschiede meist durch die angewandten Zeitkriterien ergeben. Entscheidend ist, dass die Schmerzen wiederholt oder andauernd und über einen längeren Zeitraum auftreten.
Durch diese Unterschiede in den Definitionen sowie aufgrund von methodischen Differenzen in den Prävalenzstudien ist es leider schwierig, fixe Prävalenzangaben zu machen. Fest steht jedoch, dass chronische Schmerzen im Kinder- und Jugendalter weit verbreitet und daher sehr zentral sind. Eine aktuelle Studie zeigt, dass ca. 44 Prozent aller Kinder und Jugendlichen von derartigen Schmerzen berichten, wobei 3 Prozent als schwer beeinträchtigt in ihrem Alltag gelten.
- Inwiefern machen sich diese „Beeinträchtigungen“ bei den Kindern und Jugendlichen denn bemerkbar?
Klassischerweise sind bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen die Schulfehltage massiv erhöht. Die Betroffenen reduzieren allerdings auch ihre Freizeitaktivitäten und den Kontakt zu Gleichaltrigen. Insgesamt ist zu beobachten, dass sie sich zunehmend zurückziehen. Es lassen sich auch erhöhte Komorbiditäten mit Angst und Depressivität feststellen, was in der Regel zusätzlich das Rückzugsverhalten begünstigt.
- Sie sprachen davon, dass – anders als bei akuten Schmerzen – bei chronischen Schmerzen keine körperlichen Ursachen die Auslöser sind. Was ist dann verantwortlich für die Symptome?
Sowohl im Hinblick auf die Ursachen als auch auf die aufrechterhaltenden Faktoren geht man von einem bio-psycho-sozialen Schmerzmodell aus, das heißt man nimmt an, dass Schmerzen durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren bedingt werden.
Unter den „biologischen“ Aspekt fallen zum Beispiel Genetik und Vererbung (das spielt unter anderem bei Migräne eine große Rolle), aber auch entzündliche Erkrankungen, die als körperliche Grunderkrankung die Vulnerabilität erhöhen können. Zu den „psychologischen“ Faktoren zählen zum Beispiel das Temperament des Kindes, die emotionale Veranlagung (ist es zum Beispiel ein eher ängstliches Kind?), aber auch kognitive Prozesse (wie schlimm malt ein Kind sich seine Situation aus?) sowie Passivität oder Koorbiditäten mit anderen psychischen Störungen wie beispielsweise Depressionen oder Angststörungen. Die „soziale“ Facette der Triade berücksichtigt zum Beispiel, wie gut ein Kind in seine jeweilige Peergroup eingebunden ist und wie es seine Freizeit gestaltet, aber auch die Reaktionen von Eltern bzw. Bezugspersonen und der Peergroup auf das Kind.
All diese Faktoren können für sich und in Interaktion untereinander als auslösende und aufrechterhaltenden Faktoren für chronische Schmerzen betrachtet werden. Da die Kombination oder der jeweilige Einfluss einzelner Faktoren bei jedem Kind ganz unterschiedlich ausgeprägt sein kann, ist es wichtig, stets alles genau unter die Lupe zu nehmen.
- Welche Rolle spielen die Eltern in diesem Zusammenhang?
Es ist bekannt, dass sich das Risiko für eine Chronifizierung von kindlichen Schmerzen erhöht, wenn ein oder sogar beide Elternteile selbst unter chronischen Schmerzen leiden. Die Eltern spielen also eine ganz zentrale Rolle. Zu nennen ist hier beispielsweise ihr Modellverhalten: Kinder lernen von ihren Eltern, nehmen sie als Vorbild. Es stellt sich also die Frage, wie die Eltern selbst mit ihren eigenen Schmerzen umgehen. Geben sie sich diesen hin, weinen und klagen viel oder lassen sie eher Sätze fallen wie „Ich gehe jetzt trotzdem raus und lenke mich ab“?
Daneben spielt es auch eine erhebliche Rolle, wie die Eltern auf das Verhalten des Kindes reagieren. Bestimmte Reaktionen der Eltern, sogenannte „maladaptive Reaktionen“ können einen negativen Einfluss haben. Wenn das Kind über Schmerzen klagt, ist dann auf Seiten der Eltern lerntheoretisch positiv verstärkendes Verhalten erkennbar? Wird dem Kind besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet? Darf es zum Beispiel seine Lieblingsserie schauen oder bekommt das Lieblingsessen (werden auf der Verhaltensebene also quasi „Anreize“ geboten, die Schmerzen zu haben für die Kinder „lohnend“ machen)? Oder reagieren die Eltern auf der kognitiven Ebene mit sogenanntem „Katastrophisieren“? Das heißt fühlen sie sich hilflos und äußern dies, haben „verschlimmernde Gedanken“ und verlieren sich zum Beispiel in irrationalen Sorgen darüber, was wohl passiert, wenn das Kind nun sein Leben lang Schmerzen haben wird?
Als hilfreich gilt stattdessen eher ablenkendes Verhalten, das heißt, dass trotz der Schmerzen Freizeitaktivitäten nachgegangen wird und so durch entsprechende positive Aktionen dem Schmerz weniger Raum gegeben wird. Eltern, die selbst unter chronischen Schmerzen leiden, neigen stärker dazu, maladaptive kognitiv-affektive und verhaltensbezogene Reaktionen zu zeigen.
- Dies stand auch im Fokus Ihrer Untersuchungen. Was hat sie an den Ergebnissen besonders beeindruckt?
Im Fokus meiner Untersuchung stand die Frage danach, welche Faktoren diese elterlichen Reaktionen auf den Schmerz der Kinder beeinflussen. Gezeigt hat sich beispielsweise, dass Faktoren wie elterliche Angst das Katastrophisieren und die Zuwendung der Eltern verstärken. Besonders beeindruckend war das Ergebnis, dass eine Angstsymptomatik auf Seiten der Eltern so eine große Rolle spielt. Dies bedeutet nämlich, dass – neben Kindern, deren Eltern selbst unter chronischen Schmerzen leiden – auch Kinder, deren Eltern Angststörungen und erhöhte Katastrophisierungsneigungen aufweisen, als potenzielle Risikogruppe für die Entwicklung von chronischen Schmerzen gelten. Mit Blick auf die generelle Häufigkeit von Angststörungen vergrößert dies den „Pool“ an potenziell gefährdeten Kindern und Jugendlichen natürlich immens.
- Welche Konsequenzen ziehen Sie aus diesen Erkenntnissen für den therapeutischen Alltag?
Ganz entscheidend ist meines Erachtens, dass dieser bedeutsamen Interaktion zwischen Eltern und Kindern auch im therapeutischen Kontext viel stärker Rechnung getragen wird.
Dies bezieht sich zum einen auf die Therapie psychisch kranker Erwachsener, im Rahmen derer die Elternrolle stärker berücksichtigt werden muss. Das kann beispielsweise mithilfe von Videofeedbacktherapie erreicht werden, bei der Interaktionsmomente aufgenommen werden und hinterher mit den Eltern reflektiert wird, was sie eventuell ändern könnten und welche positiven Reaktionen wie verstärkt werden könnten. Hilfreich kann auch ein Problemlösetraining für die Eltern sein, mit dem Ziel, an deren eigener Selbstwirksamkeit zu arbeiten. Es ist außerdem sehr wichtig, die Kinder in die Therapie der Elternteile mit einzubeziehen, um so ein Störungsbewusstsein zu schaffen. Eine sorgfältige Psychoedukation für Eltern und Kinder ist das entscheidende Stichwort! Mit Blick auf die Kinder selbst ist es unerlässlich, diese umfassend über die elterliche Erkrankung und die Interaktionsmuster aufzuklären. Dies muss natürlich immer an das jeweilige Alter der Kinder und Jugendlichen angepasst werden. Bei einer 16-jährigen Patientin ist es gut möglich, die Grundlagen des bio-psycho-sozialen Schmerzmodells zu besprechen, ebenso wie gemeinsam bestehende Aktionsmuster zu untersuchen (das heißt zu überlegen, wer in welcher Situation wie reagiert). Für jüngere Kinder kann auf eine Reihe gelungener psychoedukativer Bücher zurückgegriffen werden, die die Schwierigkeiten bildhaft und verständlich veranschaulichen. Zusätzlich kann es für Kinder und Jugendliche oftmals auch sehr hilfreich sein, wenn ihre erkrankten Eltern mit eigenen Worten erklären, was mit ihnen los ist. Zu erfahren, dass die Mutter mit einer Generalisierten Angststörung sich aufgrund dieser Erkrankung solche Sorgen macht, wenn man auf den Spielplatz möchte und es deswegen verbietet, erleichtert das Nachvollziehen eines solchen Verbotes häufig bzw. ermöglicht auch eine Anpassung des Verhaltens.
Bei der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie werden Eltern schon deutlich häufiger in die Therapie eingebunden als andersherum. Meine Studienergebnisse bestätigen nochmals, wie entscheidend diese Beteiligung ist. Sind Kinder stationär untergebracht, gibt es neben Eltern- und Familiengesprächen manchmal auch die Möglichkeit, dass Eltern einen Tag auf Station hospitieren, das heißt ihre Kinder im Alltag dort begleiten, um zu erkennen, was in einem anderen Kontext möglich ist. Daran anschließend kann zum Beispiel mit „Probetagen“ zuhause an konkreten anhaltenden Problemsituationen gearbeitet werden. Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen sollten es außerdem unbedingt in Betracht ziehen, sich auch im Einzelsetting mit den Eltern auszutauschen, um sorgfältig mögliche psychische Störungen und maladaptive Reaktionen auf Elternseite abklären zu können, um einer familialen Transmission von zum Beispiel chronischen Schmerzen präventiv entgegen zu wirken. Dies gilt vermutlich auch für viele andere Störungsbilder.
Leider ist es immer noch die Regel, dass psychische Erkrankungen in Familien nicht benannt oder klein gehalten werden, ein regelrechtes Tabuthema darstellen. Eine gemeinsame Therapiesitzung kann einen geschützten Rahmen bieten, um – mit der Begleitung einer ausgebildeten Therapeutin – offen zu sprechen und sich gegenseitig besser zu verstehen. Ein Aufbrechen dieses Tabus sowie die therapeutische Sicht auf die Familie als System und eine entsprechende Einbindung aller Beteiligten in die elterliche und kindliche Therapie wäre wünschenswert.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Annika Grupp.
Der DissertationsÂpreis der InteressenÂgruppe Klinische Kinder- und JugendÂpsychoÂlogie und PsychoÂtherapie berückÂsichÂtigt sowohl GrundÂlagenÂarbeiÂten als auch DisserÂtationen aus dem Bereich der PsychoÂtherapieÂforÂschung. Er wird von der InteressenÂgruppe für Klinische Kinder- und JugendÂlichenÂpsychoÂlogie und PsychoÂtherapie für hervorÂragende Arbeiten auf dem Gebiet der klinischen Kinder- und JugendÂpsychoÂlogie oder -psychoÂtherapie verliehen und durch den Kohlhammer Verlag gesponsert. Weitere Informationen finden Sie hier.