Kaum ein anderes Thema prägt so sehr die aktuelle politische Debatte wie der Nationalismus. In seinem neuen Buch „Nationalismus Illusionen und Realitäten“ setzt sich Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze fachlich fundiert und facettenreich mit Nationalismus auseinander, erläutert seine historische Begriffs- und Funktionsgeschichte, verschiedene Typen von Nationalismustheorien sowie den Zusammenhang von Nationalismus und Religion. Seit 2011 ist er Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Karlsruher Institut für Technologie. Wer politisch und geschichtswissenschaftlich auf der Höhe der Zeit sein möchte, für den wird die Lektüre des Buches zur Pflicht.
Was ist das Gefährliche, aber auch das Anziehende am Nationalismus?
Nationalismus zielt auf Identität, auf Emotionalität – und das zu hundert Prozent. Genau deshalb spricht Karl Wolfgang Deutsch vom nationalistischen Denken als einer „epistemologischen Katastrophe“. Nationalismus macht blind für die schwierige und graustufige Realität, weil er neue Realitäten und einfache, schwarz-weiße Verhältnisse schafft. Die nationalistische Welt zerfällt in us and them, in Gut und Böse. Einerseits ermöglicht die nationalistisch erzeugte imagined community gewaltige und gewalttätige Leistungen in Krieg und Frieden, andererseits ist sie weder politisch noch emotional steuerbar – obwohl alle Nationalisten das annehmen. Ihr ist die Eskalation eingeschrieben. Nationalismus ist für die Politik eine gefährliche Versuchung, weil er scheinbar eine leicht zu gewinnende Ressource erschließt. Er bietet grenzenlose Akzeptanz für vieles, was sich in den Niederungen des mühsamen Aushandlungsalltags nicht durchsetzen lässt.
Wie erklären Sie die gegenwärtige, politische Konjunktur von Nationalismus?
Es dürfte die eine Meistererklärung für die gegenwärtig in allen politischen Kulturen, insbesondere des Globalen Westens, zu beobachtende Konjunktur des Nationalismus nach dem Muster von challenge and response nicht geben. Das liegt am meta-ideologischen Charakter des Nationalismus, der selbst eigenartig inhaltsleer ist und als Booster für vorhandene Überzeugungen und Identitäten wirkt. Eben deshalb hat er Modernisierungsgewinnern und Modernisierungsverlierern, Wohlhabenderen und Prekarisierten, Alten und Jungen etwas zu geben: Eindeutigkeit in der Unterscheidung von Freund und Feind in unübersichtlichen Zeiten und Verhältnissen. Weder kann der aktuelle Nationalismus allein auf eine typische Trägergruppe festgelegt werden, noch gibt es ein spezifisches politisches, psychologisches oder historisches Problem, auf das er die Antwort darstellt. Das scheint zugleich sein Erfolgsgeheimnis zu sein. Sicherlich spielen die vielfältigen Ängste, Wandlungsstress, Unübersichtlichkeiten und Verluste von Orientierung und Sinn eine Schlüsselrolle. Aber mit der Kausalität ist es in der Geschichte immer so eine Sache.
Die Stärke Ihres Buches ist, dass Sie nicht allein verschiedene Formen von Nationalismus erläutern, sondern auch ein breites forschungsgeschichtliches Panorama aufmachen, innerhalb dessen Sie verschiedene Typen von Nationalismustheorien unterscheiden, zum Beispiel Friedrich Meineke, Karl Wolfgang Deutsch, Ernest Gellner oder Jürgen Osterhammel. Wie hat sich die Betrachtung von Nationalismus im Verlauf der Jahrzehnte verändert?
Eine der großen Konstanten des Nationalismus ist, dass er sich seit den Zeiten von Ernest Renan in seiner Struktur als Meta-Ideologie erstaunlich wenig verändert hat. Die wohl größte und gefährlichste Veränderung liegt im Bereich der Massenmedien, derer sich der Nationalismus als medienvermittelte Form moderner sozialer Kommunikation bedient. Während die nationalistischen Massenorganisationen der Navy League und der Alldeutschen um 1900 noch auf Printmedien – wenn auch in gewaltiger Auflage und Verbreitung – und auf Organisation angewiesen waren, kann sich der mächtigste Nationalist unserer Gegenwart, der 45. Präsident der USA, Donald Trump, direkt und ungefiltert über Twitter an Millionen von Anhängern wenden. Von allen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien nutzt die AfD die sozialen Medien am intensivsten zur Schaffung ihrer nationalistischen alternativen Parallelwirklichkeit, und das mit Erfolg. Die hier mögliche Mobilisierungsgeschwindigkeit und -effizienz des nationalistischen Schwarms ist beispiellos in der Geschichte des Nationalismus. Die Instrumente der Aufklärung und der Vernunft – ganz konkret die der parlamentarischen Demokratie im liberalen Verfassungsstaat – wirken mit einer viel langsameren Geschwindigkeit. Government by discussion beansprucht weitaus mehr Zeit und Reflexion als Likes und Disklikes. Die innere Schweinehund ist online schneller von der Leine. Auf diese Weise zerstört der rechtspopulistische Nationalismus durch die Spaltung ganzer Gesellschaften wie auch der United Nations den gemeinsamen Werterahmen demokratischer politischer Praxis. Die Betrachtung des Nationalismus erweist sich in einer Hinsicht als außerordentlich konstant: Bei der auch unter Historikern weitverbreiteten Illusion einer Unterscheidbarkeit von „integrativem“ Patriotismus und „ausschließendem“ Nationalismus, von „guter“ Nation und „schlechtem“ Nationalismus. Der Nationalismus erzeugt die Nation. Nationalismus ist nicht nur der „übertriebene“ Patriotismus der anderen.
Sie erläutern, dass nationalistische Tendenzen nicht allein in rechten, sondern auch in linken Parteien zu finden sind. Weshalb sind nationalistische Diskurse für politische Gruppen interessant?
Zunächst sollte man hier rein empirisch festhalten, dass der Nationalismus schon im gesamten 20. Jahrhundert eindeutig eher rechts als links zuhause ist. Wer in unserer Gegenwart allzu stark betont, dass es Extremismus und Nationalismus rechts und links gibt, ist durch die Überbetonung seiner angeblichen rein strukturorientierten Unparteilichkeit nahe an der Wirklichkeitsverweigerung. Leider ist genau dies in einer bestimmten Sorte politikwissenschaftlicher „allgemeiner“ Extremismustheorie jahrzehntelang die Praxis gewesen, was auch zu den Gründen für die erschreckende Rechtsblindheit eines Teils unserer Verfassungsschutzinfrastruktur gehören dürfte. Richtig ist, dass der Nationalismus als Mobilisierungsinstrument immer wieder auch für linke Politiker attraktiv gewesen ist. Das Maduro-Venezuela ist da nur ein mögliches Beispiel von vielen. In meinem Buch versuche ich, diesem Thema u. a auch am Beispiel des SED-offiziellen Nationalismus seit 1976 im „sozialistischen Vaterland“ der DDR nachzugehen. Nationalismus ist für Politiker interessant, so lange sie nicht wie Bundespräsident Heinemann auf die Journalistenfrage antworten, ob er denn sein Vaterland liebe: „Ich liebe meine Frau“.
Herzlichen Dank für das Interview.
Dieses Interview führte schriftlich Charlotte Kempf.
Zu einem weiteren Interview über das Buch hören Sie hier den Autor im Gespräch mit dem Campusradio des Karlsruher Instituts für Technologie.