„Gescheiterte Aufklärung?“ – Interview mit Georg Cavallar

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Anlässlich des Erscheinens des Buches „Gescheiterte Aufklärung?“ haben wir mit dem Autor Dr. Georg Cavallar über sein aktuelles Werk und die unterschiedlichen Konzeptionen von „Aufklärung“ gesprochen.

Ein Jahr nachdem Ihr Titel „Islam, Aufklärung und Moderne“ erschienen ist, haben Sie nun mit dem Titel „Gescheiterte Aufklärung?“ nachgelegt. Was hat Sie zu der Titelformulierung motiviert?

In Diskussionen und Publikationen wird manchmal behauptet, die Aufklärung wäre gescheitert. Bei dieser pauschalen Behauptung fällt auf, dass oft gar nicht genau definiert wird, was mit Aufklärung gemeint ist. Wie kann ich von etwas, das ich noch nicht präzise bestimmt habe, aussagen, es sei gescheitert? In diesen Fällen ist sehr häufig mit „der Aufklärung“ alles Mögliche gemeint: die Moderne, der Individualismus, die Säkularisierung, der Atheismus, die Trennung von religiöser und politischer Sphäre etc. Auch diese Schlagwörter sind dann unterbestimmt. Insgesamt also eine höchst unbefriedigende Situation. Mit meinem Buch möchte ich dieses undifferenzierte Denken in Frage stellen. Zunächst einmal mit einer Untersuchung der verschiedenen Konzeptionen von Aufklärung.

Welche Konzeptionen von Aufklärung meinen Sie damit?

Umschlag von "Gescheiterte Aufklärung?"Aufklärung kann erstens ganz allgemein als interkulturelles Phänomen von Rationalisierungsprozessen verstanden werden. Deshalb ist es auch sinnvoll, etwa von einer „islamischen Aufklärung“ zu sprechen. Im engeren Sinn sprechen wir zweitens von einer „europäischen Aufklärung“. Bei diesem Epochenbegriff ist die Kultur- und Geistesgeschichte von Europa, Nord- und Lateinamerika von ungefähr 1650 bis 1800 gemeint. Innerhalb der europäischen Aufklärung gibt es natürlich starke regionale und chronologische Unterschiede. Die frühe Aufklärung unterscheidet sich zum Beispiel von der so genannten Spätaufklärung. Die Aufklärung war insgesamt sehr heterogen.

Meinen Sie, dass es einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ für diese europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts gibt?

Die Fachwissenschaft ist sich nicht einig – manche verzichten überhaupt auf den Oberbegriff „europäische Aufklärung“. Ich plädiere hier für einen „mittelfesten“ Begriff von Aufklärung, wie es Werner Schneiders nannte. Kennzeichen sind die verstärkte Wendung zur eigenen Vernunft, zum Individuum und zu seiner Geschichte. Die Aufklärer haben auch die verschiedenen wissenschaftlichen Bereiche oder Disziplinen weiter ausdifferenziert. Sie alle sagten – wie schon erwähnt – der Unwissenheit, dem Unverstand, Aberglauben und Vorurteilen den Kampf an. Ich nenne den letzten Aspekt die „Aufklärung des Verstandes“. Innerhalb der europäischen Aufklärung unterscheide ich jedenfalls zwischen einer „Aufklärung des Verstandes“, der Aufklärung durch Wissenschaft, dem emanzipatorischen Aufklärungsbegriff und der Aufklärung der Vernunft.

Worin unterscheidet sich denn die „Aufklärung des Verstandes“ von den anderen Konzeptionen von Aufklärung?

Kurz gesagt versucht Aufklärung durch Wissenschaft Unwissenheit, Unverstand, Aberglauben etc. durch Wissenschaft, wissenschaftliche Methoden und wissenschaftliches, also vor allem methodisches, auf Erfahrung bezogenes Denken zu überwinden. Das ist die Kurzformel für das szientistische Aufklärungsmodell, das die französischen Enzyklopädisten ganz prominent vertreten haben. Der emanzipatorische Aufklärungsbegriff hat eine andere Zielsetzung. Ziel ist die Befreiung von unterschiedlichen Formen der Bevormundung. Das können soziale, religiöse, politische oder kulturelle Fesseln und Unfreiheiten sein, die vor dem „Forum der Vernunft“ nicht begründet werden. Schließlich vertreten manche späten Aufklärer wie Rousseau, Kant oder Humboldt eine „Aufklärung der Vernunft“. Im Mittelpunkt steht das reflexive, vor allem das selbstreflexive Selberdenken.

In Ihrem Buch erzählen Sie vom „Test of Ridcule“. Anfang des 18. Jh. schlug der Earl of Shaftesbury vor, durch die „Probe des Lächerlichen“ zu testen, wer „wahre Religiosität“ und wer „enthusiastische religiöse Schwärmerei und blindem Fanatismus“ verfolge. Kann man diesen Test heute noch einsetzen oder ist uns diese Möglichkeit abhandengekommen?

Schon Aufklärer wie Moses Mendelssohn haben gegen diesen „Test des Lächerlichen“ Bedenken angemeldet. Er kann verletzend und respektlos sein. Ich denke, heute kommt es darauf an, Menschen mit unterschiedlichen Religionen und Weltbildern zu respektieren und gleichzeitig Kritik an Formen des Fanatismus, des Dogmatismus und der Intoleranz zu üben – mit einer reflexiven Haltung. Diese selbstreflexive Einstellung oder „Denkart“ besteht darin, etwa anzuerkennen, dass Fanatismus, Dogmatismus und Intoleranz nicht nur in der Gruppe gefunden werden kann, die man selbst ablehnt: etwa den Neonazis, den Linken, den Muslimen und Muslimas, den Trump-Fans. Sondern vielleicht auch bei mir selbst, bei meinen Freunden und Bekannten, bei der Gruppe, der ich angehöre.

Warum muss Aufklärung immer wieder, mit jeder Generation neu begonnen werden?

Plump formuliert: weil Selberdenken nicht vererbt werden kann. Wir Erwachsenen können Anregungen schaffen, in den Familien, Schulen, Universitäten, Religionsgemeinschaften und in anderen Institutionen. Aber es gibt keine Garantie, dass diese Anregungen auch angenommen werden.

Kant definierte auch deswegen Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Wie kann es gelingen, Menschen zum Selberdenken anzuregen?

Wer die Möglichkeit hat, sich selbst aufzuklären, aber von diesen Anregungen und Angeboten keinen Gebrauch macht, bleibt eben in selbst verschuldeter Unmündigkeit. Anregungen können ganz unterschiedlich ausfallen: zum Beispiel indem ich als Lehrer im Unterricht eine These vertrete und dann die Schüler/-innen auffordere, diese These mit Argumenten in Frage zu stellen. Wichtig ist es, auf dogmatische Fixierungen zu verzichten. Unsinnig ist auch das andere Extrem, nämlich zu behaupten, dass es sowieso keine Wahrheit gebe und alles „irgendwie“ gleich falsch und richtig, unmoralisch und moralisch sei. Dieser Prozess der Aufklärung hat auch bestimmte politische Voraussetzungen, etwa eine Sphäre der Öffentlichkeit oder einen Rechtstaat.

Wo begegnet uns heutzutage Aufklärung und wie kann man zu einem Gelingen der Aufklärung beitragen?

Ich denke, sie passiert überall dort, wo sich Menschen kritisch, selbstreflexiv und selbstdenkend über sich selbst, unsere Welt, unser Verhältnis zu ihr und über den Sinn und Zweck des Lebens Gedanken machen. Das kann in einem islamischen Religionsunterricht genauso stattfinden wie in einer Diskussion über globale Erwärmung oder den Terrorismus. Aufklärung gelingt in einer Gemeinschaft, die bereit ist, Räume für dieses selbstreflexive und kritische Denken zu schaffen. In diesem Zusammenhang möchte ich mich ganz besonders bei der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung bedanken.

Ist die Aufklärung gescheitert?

Auch eine plakative Frage, die wiederum eine differenzierte Antwort erfordert. Verstehen wir unter Aufklärung den Kampf gegen Unwissenheit, Halbbildung, Vorurteile, gegen Aberglauben, religiösen und ideologischen Fanatismus, gegen Dogmatismus und engstirniges Denken? In diesem Fall kann Aufklärung nie an ihr Ende kommen, sie kann aber auch bei Individuen und Gruppen klar scheitern. Solange es allerdings Menschen gibt, die bereit sind, von ihrer eigenen Vernunft einen kritischen Gebrauch zu machen, kann Aufklärung auch nicht endgültig scheitern.

Wir danken Herrn Dr. Cavallar für das Interview und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die großzügige finanzielle Unterstützung der Drucklegung.

Fachbereich(e): Geschichte, Theologie. Schlagwort(e) , , , , , . Diese Seite als Lesezeichen hinzufügen.