Mit zwei Büchern zum Humor und zur Heiterkeit in der psychiatrischen Pflege hat sich der Krankenpfleger Jonathan Gutmann bislang einen Namen gemacht. Mit seinem gerade erschienenen Buch „Humane Psychiatrie“ schlägt er nun ernstere Töne an. Eine Vielzahl zeitgenössischer Begriffe aus der zeitgenössischen Psychiatrie arbeitet er nicht nur auf, sondern gibt den Termini subjektive Bedeutungen. Christoph Müller von der Zeitschrift Pflege Professionell hat bei einem Apfelwein die Gedanken mit Jonathan Gutmann ausgetauscht.
Christoph Müller Lieber Herr Gutmann, was ist Ihre persönliche Motivation gewesen, sich intensiver mit Begriffen wie Recovery und Autonomie, Bezugspflege und Hoffnung, Kontextualisierung und Selbsthilfe zu beschäftigen? Ist es Ihr Ziel, die Termini mit Leben zu füllen?
Jonathan Gutmann Zuerst möchte ich noch kurz auf das eingeleitete Thema Humor und Ernsthaftigkeit eingehen. Ich werde nicht müde zu betonen, dass für mich Humor innerhalb der psychosozialen Versorgung ein ernsthaftes Thema darstellt, das mehr Bedeutung verdient hat. Es war nie mein vorrangiges Ziel, die Psychiatrie zu humorisieren. Die Humanisierung liegt mir schon lange am Herzen. Humor kann einen wichtigen Beitrag leisten, da er beispielsweise dazu verhelfen kann, das Eis zu brechen, Hierarchien und Machtgefälle zu durchbrechen, einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen oder den Kontakt auf Augenhöhe zu fördern.
Nun zurück zu Ihrer Frage. Die Thematik der humanen Psychiatrie beschäftigt mich schon einige Jahre. Nicht zuletzt die Fachweiterbildung, die ich vor einigen Jahren bei Hilde Schädle-Deininger absolvieren durfte, hat mich stark geprägt und ermutigt, mich nicht nur über Problematiken und Missstände zu ärgern, sondern selbst einen Beitrag zur möglichen Verbesserung beizusteuern. Dabei begleitete mich das Zitat „Beklage nicht, was nicht zu ändern ist, aber ändere, was zu beklagen ist“ von William Shakespeare genauso wie ein Satz des US-amerikanischen Psychiaters Allen Frances: „Jeder verantwortungsbewusste Mensch muss schlecht ausgeübte und ihre Kompetenz überschreitende Psychiatrie kritisieren (und der Kritik anderer beipflichten)“ (Frances 2014, S. 336).
Mein Wunsch ist es, eine möglichst ganzheitliche Sichtweise auf das Thema „psychische Störung“ bzw. „psychische Gesundheit“ zu legen. Einige der von Ihnen genannten Begrifflichkeiten lassen sich bereits in Konzepten, Leitbildern oder -linien unterschiedlicher Institutionen finden, ohne dass sie wirklich mit Leben gefüllt sind. Ich würde mich natürlich sehr freuen, wenn das Buch einen Beitrag zum Füllen dieser teilweise leeren Worthülsen leisten würde, es zur Reflexion des eigenen Denkens und Handelns führt und somit auch zur weiteren Verbesserung der psychosozialen Versorgung und dem Umgang mit psychisch erkrankten Menschen.
Christoph Müller In der psychiatrischen Versorgung im Allgemeinen, in der psychiatrischen Pflege im Besonderen hat die Evidenz-Basierung Konjunktur. Wieso legen Sie so viel Wert auf die persönliche Grundhaltung bei der psychiatrischen Arbeit?
Jonathan Gutmann Psychiatrie und psychiatrische Pflege sind für mich in erster Linie Haltungsfragen. Selbstverständlich spielt die Evidenzbasierung im Rahmen der transparenten Leistungsabbildung oder Professionalisierung eine wichtige Rolle. Psychiatrische Pflege ist für mich vorrangig Beziehungsgestaltung. Viele Aspekte der Beziehungsgestaltung lassen sich nicht messen oder abbilden. Sie sind auch nicht (wie beispielsweise die Chefarzt-Behandlung) im Leistungskatalog der Krankenkassen oder Kliniken vorhanden oder können mit gewissem Kleingeld dazu gebucht werden. Diese Aspekte stellen aber die Basis unserer Arbeit dar.
Psychiatrische Pflege ist Arbeit von Menschen für und mit Menschen. Dies sollte den Aspekt der Menschlichkeit verdeutlichen. Wir alle sind Menschen – Profis genauso wie Betroffene oder Angehörige. Es ist niemand davor geschützt, selbst irgendwann im Laufe des Lebens einmal an einer psychischen Störung zu leiden. Daher stelle ich mir im Arbeitsalltag im Umgang mit Patientinnen und Patienten häufig die Frage, wie ich möchte, dass mit mir umgegangen wird, käme ich einmal in die Situation meines Gegenübers. Dies löst selbstverständlich nicht alle Probleme und ein holistischer Ansatz verbietet solche Gedanken eigentlich auch, da nicht jedem Menschen das Gleiche guttut oder er das Gleiche für erstrebenswert erachtet, wie man selbst. Trotzdem kann diese Reflexion hinsichtlich eines menschenwürdigen Umgangs hilfreich sein. Dafür muss sich im Vorfeld allerdings mit verschiedenen anthropologischen, ethischen, philosophischen und fachspezifischen Themen auseinandergesetzt werden. Neben dem vorherrschenden Menschenbild wären es auch Fragen zum Krankheitsverständnis oder Themen wie Ambiguitätstoleranz, die es ermöglicht, den Betroffenen trotz auseinandergehender Meinungen hinsichtlich des Genesungsprozesses oder Behandlungswunsches bestmöglich empowermentorientiert auf seiner Reise zu begleiten und zu unterstützen.
Ein wichtiger Haltungsaspekt ist beispielsweise auch das Thema Zeit. Ein bekanntes Sprichwort besagt, dass die Zeit alle Wunden heilt. In unserem Kontext betrifft es unter anderem auch das Thema Zeit haben, das Dabeisein, was für mich auch eine Frage der Haltung ist. Es mag ketzerisch klingen, aber ich glaube, dass für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen eine bedingungslose, liebe- und verständnisvolle Zuwendung eines der wichtigsten und heilsamsten Umgangsweisen überhaupt ist.
Ein weiterer Aspekt ist für mich immer der altehrwürdige Gedanke: „Wer heilt, hat recht“. Heilkunde ausüben dürfen in Deutschland bisher nur die Heilberufsgruppen des Arztes, Psychotherapeuten, Apothekers und Heilpraktikers. Aber was wäre in der psychosozialen Versorgung ein Genesungsprozess ohne die Pflege? Demzufolge sollte immer die Frage gestellt werden dürfen, was dem Betroffenen wirklich hilft und ob es zwingend evidenzbasiert sein muss. Die gleiche Frage stellt sich beispielsweise auch für die Selbstheilungskräfte, die in jedem Menschen schlummern und die in der Behandlung aktiviert werden können.
Pflegende dürfen übrigens stolz auf die wichtige Arbeit sein, die sie leisten. Sie müssen künftig lauter werden und mehr für sich und eine humane Versorgung einstehen.
Christoph Müller Als Fachkrankenpfleger für Psychiatrie begleiten Sie seelisch erkrankte Menschen in einem stationären Kontext. Was macht es für psychiatrisch Pflegende schwer, das eigene Handeln an Grundsätzen der Humanität und der Integrität der Betroffenen ganz konkret zu orientieren?
Jonathan Gutmann Ich möchte niemandem Böswilligkeit, Ignoranz oder Unbelehrbarkeit unterstellen und glaube, dass in vielen Fällen die Macht der Gewohnheit leider eine Rolle spielt: „Das haben wir doch schon immer so gemacht“. Für einige professionelle Helfer wird nach vielen Jahren paternalistischer Psychiatrie (mit starren, festgefahrenen Strukturen, Denkweisen und Regeln) mit dieser neuen Psychiatrie, die mehr die Autonomie der Betroffenen, eine partizipative Entscheidungsfindung sowie die Begegnung auf Augenhöhe einfordert, aber auch versucht, Wünsche und Sorgen der Angehörigen im Blick zu haben, das eigene Weltbild ins Wanken gebracht. Helfende Berufe sind nun zum Umdenken gezwungen. Der fürsorgliche Gedanke, dem Betroffenen etwas Gutes zu tun, indem man ihm (im Zweifelsfall auch gegen seinen Willen) all seine Symptome beseitigt, muss auf die Goldwaage gelegt und geprüft werden. Aus der Recovery-Bewegung wissen wir, dass Symptomfreiheit nicht für jeden Menschen das oberste Ziel ist, vor allem nicht, wenn durch bestimmte Behandlungsmethoden weitere Einschränkungen verursacht werden. Vielmehr gilt es zum Beispiel Unterstützung beim Umgang mit der Störung und einer Integrierung in den Alltag anzubieten. Dieser Ansatz ist für viele Profis völlig neu. Es ist daher nur verständlich, dass diesbezüglich bestimmte Unsicherheiten oder Ängste vorherrschen. Viele neue, alternative oder kreative Behandlungskonzepte sind ungewohnt und müssen erst einmal etabliert werden. Vielerorts müssen dazu allerdings die paternalistischen Grundmauern erst noch vollständig eingerissen werden. Daher ist der Weg zu einer humanen Psychiatrie ein Prozess, der vermutlich nur im Trialog zielführend und gewinnbringend sein wird.
Die Kunst des Veränderungsprozesses ist es, Menschen dort abzuholen, wo sie stehen und sie behutsam mit auf diese gemeinsame Reise zu nehmen. Dies erfordert ein hohes Maß an Sensibilität. Auch ich habe gelegentlich Lehrgeld zahlen müssen, indem ich über das Ziel hinausgeschossen bin. Mittlerweile habe ich gelernt, dass auch steter Tropfen den Stein höhlt. Ich bin mit den wachsenden Berufsjahren deutlich gelassener geworden. Dabei behilflich war mir sicher auch der Humor.
Christoph Müller Wie reagieren Kolleginnen und Kollegen im stationären Umfeld auf Ihre Impulse, wenn Sie über den Begriff Akzeptanz beispielsweise schreiben: „Es sollte immer im Interesse der Betroffenen gehandelt werden.“? Gelten Sie möglicherweise als Nestbeschmutzer?
Jonathan Gutmann Als Nestbeschmutzer werde ich glücklicherweise nicht gesehen, was womöglich daran liegt, dass beispielsweise die konstruktiven Ergebnisse des menschlichen und fachlichen Umgangs mit Ober-/Chefärzten bzw. im multiprofessionellen Team oder das positive Feedback vonseiten der Betroffenen oder Angehörigen durchaus für Jeden im Arbeitsalltag sicht- und spürbar werden. Selbstverständlich lösen nicht alle Impulse sofort Stürme der Begeisterung aus. Ein Reflexionsprozess verdeutlicht hier, dass es nicht einfach ist, die eigene Komfortzone zu verlassen. Dies muss erst einmal akzeptiert werden, ehe ein fruchtbarer Veränderungsprozess angestoßen werden kann.
Auch ich bin nur ein Mensch und mache nicht immer alles richtig. Trotzdem möchte ich versuchen, eine Vorbildfunktion einzunehmen, auch wenn dies nicht ausschließt, manchmal streitbar zu sein.
Ich habe über die Jahre den Eindruck gewonnen, dass anfängliche Skepsis oder Ablehnung sich sehr schnell auflösen lassen, wenn man seinen Standpunkt fundiert erklären kann. Hier können neben der eigenen gefestigten Haltungsweise die Evidenzbasierung bzw. ein gewisses Fachwissen hilfreiche Überzeugungsarbeit leisten.
Christoph Müller Über Leitlinien schreiben Sie, dass sie mit Vorsicht zu genießen sind. Was ist Ihr roter Faden in der alltäglichen psychiatrischen Pflege?
Jonathan Gutmann Leitlinien können natürlich eine wichtige Hilfestellung im Arbeitsalltag sein. Manchmal können sie aber auch die Individualität und Kreativität einengen. Genau diese beiden Punkte werden von Betroffenen innerhalb der Behandlung immer wieder eingefordert. Ich pflege daher einen wertschätzenden, respektvollen, empathischen, individuellen, flexiblen, partizipativen, salutogenetischen, ressourcenorientierten und -stärkenden, reflektierten, auf professionelle Nähe und Augenhöhe basierenden Umgang mit meinen Patientinnen und Patienten.
Seit einiger Zeit bin ich in der Klinik Hohe Mark für die Stabsstelle Qualitätssicherung und Pflegeentwicklung verantwortlich. Hier versuche ich nach der Maxime „fördern und fordern“ zu handeln. Ich möchte Kolleginnen und Kollegen mit Handwerkszeug ausstatten, das ihnen ermöglicht, ihr eigenes Handeln zu reflektieren, aber auch gut ausgerüstet hochwertige psychiatrisch-psychotherapeutische Pflege anbieten zu können.
Christoph Müller Im Zusammenhang mit der Partizipation fordern Sie das Einbeziehen der Betroffenen in die Begleitung und Behandlung. Wie kann dies für Sie aussehen? Wie groß ist die Gefahr, dass Worthülsen im Raum stehen?
Jonathan Gutmann Die Gefahr, dass bestimmte Begriffe als Worthülsen ausgenutzt werden und als Aushängeschilder auf Hochglanzbroschüren oder Internetauftritten dienen, besteht leider immer. Glücklicherweise finden sich immer mehr Betroffene, die eine Ausbildung als Genesungsbegleiter absolvieren. Leider sind Genesungsbegleiter noch keine Selbstverständlichkeit. Es müssen dazu noch verschiedene Hürden und Barrieren abgebaut werden. Betroffene sind Experten durch Erfahrung und müssen als diese anerkannt und wertgeschätzt werden. Als Person der Expertengruppe durch Fachwissen kann ich vieles fachlich erklären und verstehen. Auch als Angehöriger (Experte durch Miterleben) kann ich Erfahrungen weitergeben. Ich kann allerdings nicht erklären, wie es sich anfühlt, wenn ich beispielsweise so antriebslos bin, dass ich morgens nicht aus dem Bett komme, meine Gedanken ständig nur um die eine Sache kreisen und ich deshalb nicht schlafen kann, ich Stimmen höre oder ich gar an Selbstmord denke. Da bieten Genesungsbegleiter (Experten durch Erfahrung) wichtige Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten an und können eine Vorbildfunktion einnehmen, die anderen Betroffenen Hoffnung schenken kann. Daher können sie unter anderem in Beratungsgesprächen oder Psychoedukationsgruppen eine wichtige Rolle haben. Ebenfalls können sie im Hinblick auf eine möglicherweise verrohte Sprachkultur im Team Feedback geben und zu einem Perspektivenwechsel beitragen.
Christoph Müller Die Geleitworte des Buchs sind trialogisch und interprofessionell gestaltet. Dies ist ein klares Zeichen, dass Sie es mit den eigenen Positionen ernst meinen. Worauf stellen Sie sich ein, wenn es um die Wirkung des Buchs „Humane Psychiatrie“ geht?
Jonathan Gutmann Das Buch ist wie ein Wörterbuch in alphabetischer Reihenfolge aufgebaut und beinhaltet Begriffe und Konzepte von A wie Abbau von Barrieren bis Z wie Zwang vermeiden. Die Begriffsliste ist durch viele trialogische Gespäche entstanden, daher war mir auch wichtig, dass es ein trialogisches Nachwort beinhaltet. Ich habe mich auch sehr gefreut, dass mein Wunsch nach interprofessionellen Geleitworten auf offene Ohren stieß und ich Andreas Heinz und Thomas Bock (beides Personen, die ich sehr schätze) dafür begeistern konnte.
Im Vorfeld der Veröffentlichung habe ich bereits verschiedene Diskussionen führen dürfen. Ein Einwand von (antipsychiatrisch gefärbter) Betroffenenseite war beispielsweise, dass die Institution Psychiatrie niemals human sein kann oder wird. Der aktuelle DGPPN-Präsident Andreas Heinz schreibt in seinem Geleitwort, dass die Geschichte uns lehrt, dass die Psychiatrie über einen langen Zeitraum von Unmenschlichkeit gekennzeichnet war und sich jetzt die Frage gestellt werden muss, wie eine menschenwürdige, den Betroffenen individuell gerecht werdende Versorgung aussehen kann. Man darf die Vergangenheit nicht vergessen, muss aber aus gemachten Fehlern lernen. Daher bin ich der Meinung, dass eine flächendeckende humane Psychiatrie möglich ist, auch wenn bis dahin noch ein steiniger Weg zu gehen ist.
Das Buch habe ich für alle an der psychosozialen Versorgung beteiligten Personengruppen geschrieben: Experten durch Fachwissen, durch Erfahrung sowie durch Miterleben. Ich habe versucht, dafür eine möglichst einfache Sprache zu wählen. Meine Hoffnung ist, dass sich alle Gruppen mehr aufeinander zu bewegen, sie sich die eigene Menschlichkeit (und somit auch Fehlbarkeit) eingestehen und gemeinsam versuchen, zu einer Verbesserung der Behandlung und Versorgung beizutragen. Ich bin realistisch und deshalb ist mir bewusst, dass die Reaktionen sicher unterschiedlich ausfallen werden. Während manche Menschen froh sein werden, dass endlich so ein Buch erscheint, wird es andere Personen geben, denen das Buch und die Hinweise und Appelle nicht weit genug gehen. Ebenfalls wird es vermutlich Personen geben, die sich vor den Kopf gestoßen fühlen werden. Im Buch betone ich, dass es mit gesundem Skeptizismus gelesen werden sollte.
Ich bin sehr gespannt auf die unterschiedlichen Rückmeldungen zum Buch und hoffe, dass es dazu beiträgt, miteinander ins Gespräch zu kommen und Veränderungs-/Verbesserungsprozesse anzustoßen.
Christoph Müller Herzlichen Dank für das Engagement, das Sie mit dem neuen Buch zeigen.
Das Buch, um das es geht: Jonathan Gutmann: Humane Psychiatrie – Psychosoziale Versorgung zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Der Artikel erschien im Original auf pflege-professionell.at.