Herr Dr. Stier, Sie sind Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und praktizierender Kinder- und Jugendarzt in Butzbach. Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie dazu gebracht hat, sich mit dem Thema Jungen und Gesundheit näher auseinanderzusetzen?
Im Rahmen meiner Kinder- und Jugendärztlichen Tätigkeit habe ich immer wieder, meist im Rahmen der J1, Befunde erhoben, bei denen mir klar war, dass dies dem Jungen schon länger bekannt sein musste. Warum ist er dann nicht schon früher zur Beratung und Untersuchung gekommen? Durch meine Verbindungen im Netzwerk Männergesundheit, insbesondere zu meinem Freund und Mitherausgeber Reinhard Winter,  habe ich erfahren, dass zwei wesentliche Barrieren dafür verantwortlich sind; 1. die nach wie vor bestehende Sichtweise der Unvereinbarkeit von Männlichkeit und Krankheit 2. die mangelnde Expertise des betreuenden Personals.
So bildete ich mich intensiver in diesem Bereich fort, wobei mir zwei Dinge zur Hilfe kamen:
a: Die Jungen selber, die vermehrt kamen, weil da wohl einer war, der sich mit ihren Problemen beschäftigte und – zunehmend mehr – auch auskannte. Sie konfrontierten mich mit den unterschiedlichsten Krankheits- und Störungsbildern, die es zu deuten und adäquat zu behandeln galt.
b: Kollegen und Freunde vornehmlich aus den USA sowie im Netzwerk Männergesundheit, die mir immer wieder wertvolles Wissen vermittelten. Hinzu kam natürlich  das Suchen und Lesen von Fachartikeln, die ich verstreut in diversen Fachzeitschriften fand. Der Austausch mit Kollegen und der Besuch von Kongressen tat sein Übriges. Letztlich lernt man auch sehr viel im Verfassen eigener Artikel, da es hier gilt immer wieder zu hinterfragen und auf den Prüfstand zu stellen, was geschrieben steht und was geschrieben wird.
Mit Ihrem Buch „Jungen und Gesundheit“ haben Sie eine wahre Lücke im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin gefüllt. Warum, denken Sie, lag der Fokus zuvor wenig auf dem Gebiet der Jungen-Medizin?
Jahrzehntelang wurden Jungen und Mädchen in ihrem gesundheitlichen Verhalten nicht getrennt betrachtet. In der Fachliteratur und in den Studien wurde in der Regel nicht zwischen den Geschlechtern unterschieden. Die Daten des gesundheitlichen Verhaltens und deren Bedingungen besonders im Jugendalter wurden meist nur geschlechtsneutral als Einheit erhoben.
Während der 1. Frauengesundheitsbericht 2001 durch das BMFSFJ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, dauerte es fast weitere 10 Jahre bis 2010 der erste Männergesundheitsbericht zur Verfügung stand. Mädchen und Frauen standen schon wesentlich früher im Fokus der Gesundheitsberichterstattung, da die Frauenrolle es von jeher wesentlich leichter macht sich mit Gesundheit und Krankheit auseinander zu setzen. Wir erleben dies tagtäglich in unseren Praxis , wo es die Mütter sind, die mit ihren Kindern zum Arzt gehen, es aber auch die Frauen sind, die immer wieder ihre Männer zu gesundheitlichem Verhalten und Arztbesuchen anspornen. Das hat sehr viel mit Gender zu tun aber ist auch vermutlich dadurch beeinflusst, dass die gesundheitlichen Versorgungsstrukturen für Mädchen und Frauen, zumal gepuscht durch die Emanzipationsbewegung, deutlich verbessert wurden. Gehen Mädchen heute selbstverständlich ab einem gewissen Alter zur Gynäkologin oder zum Gynäkologen, so fehlen für Jungen jenseits der Pubertät die geeigneten Ansprechpartner im Gesundheitssystem. Nach wie vor ist Jungenmedizin/Jungengesundheit ein wenig bekannter Bereich der Pädiatrie. Vereinzelt finden sich Artikel in pädiatrischen, urologischen, endokrinologischen und kinderchirurgischen Fachzeitschriften. Dies macht es schwierig, diesen eigentlich eigenständigen Bereich als solchen zu erkennen und sich entsprechend fortzubilden. Diese Lücke wollten wir schließen um Expertise zu ermöglichen, die eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist, die gesundheitlichen Versorgungsstrukturen für Jungen zu verbessern. Vergessen wir nicht: Männergesundheit fängt mit Jungengesundheit an. Was Hänschen nicht lernt Hans nur noch sehr mühsam. Das gilt auch für den Gesundheitssektor.
In welchen Gesundheitsbereichen sind Jungen offensichtlich eher gefährdet als Mädchen?
Neben den jungenspezifischen Erkrankungen stellen hier Unfälle, Folgen von Experimentier- und Risikoverhalten sowie psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten das größte Kontingent.
Sie sprechen unter anderem die Suizidrate bei Jungen und Männern an. Ist der Suizid ein spezifisches Jungen/Männer-Problem?
Suizid ist selbstverständlich kein jungenspezifisches Problem. Aber die Art und die Ursachen für suizidale Handlungen unterscheiden sich deutlich zwischen den Geschlechtern.
Immer wieder liest man, dass auch Essstörungen bei Jungen zunehmen. Ist dies ein neues Phänomen oder wird heute nur mehr als früher darüber geredet?
Dies ist nicht unbedingt ein neues Phänomen aber wir werden langsam sensibler für diese Thematik. Nicht zuletzt auch durch Personen wie Sven Hannawald wurde auch die Öffentlichkeit auf dieses – vorher nur mit Mädchen und Frauen in Verbindung gebracht – Phänomen aufmerksam. Nach wie vor gibt es eine hohe Dunkelziffer bei aber vermutlich deutlich niedrigerer Prävalenz von Essstörungen bei Jungen und Männern. Dabei werden die später einsetzende Adoleszenz und die verhältnismäßig geringere Zunahme an Fettgewebe während und nach der Pubertät allgemein als protektive Faktoren für das männliche Geschlecht angesehen. Tätigkeiten als Model, Tänzer, Schauspieler oder Leistungssportler unterliegen einem erhöhten Risiko.
Wie sieht es mit der gesundheitlichen Versorgung Jugendlicher in anderen Ländern aus? Werden dort Geschlechterunterschiede gemacht? Wenn ja, welche?
Bei der Gesundheitsförderung von Jungen nimmt zumindest die USA eine Vorreiterstellung ein, betrachtet man die theoretischen Grundlagen einer solchen Versorgung. In der Praxis stehen wir nicht nur hier in Europa sondern auch in den USA noch am Anfang zu einer besseren gesundheitlichen Versorgung von Jungen und Männern.
Wie steht es um die psychosoziale Entwicklung der Jungen heutzutage?
Das lässt sich nicht einfach in ein paar wenigen Sätzen sagen. Das ganze Buch „Jungen und Gesundheit“ beleuchtet die zahlreichen und sehr verschiedenen Facetten der psychosozialen Entwicklung der Jungen und ihre Auswirkungen auf das Gesundheitsverhalten. Es  ist damit das erste deutschsprachige Buch, was in dieser Vielfalt einen umfassenden Einblick in die Thematik bietet und den aktuellen Stand der Erkenntnis aufzeigt.
Was wünschen Sie sich für die Gesundheitsbildung in der Jungen-Gesundheit in nächster Zeit?
Ich wünsche mir, dass die Beschäftigung mit dieser Thematik ein großes Ansteckungspotential zeigt und viele Personen im Gesundheitsektor infiziert. So werden wir es hoffentlich erreichen Wissen zu vermehren und zu verbreiten, mehr Expertise zu erlangen, mehr Angebote zu machen und so es Jungen ermöglichen kompetente Betreuungs- und Versorgungseinrichtungen zu kontaktieren. So können wir zukünftig das Gesundheitsbewusstsein bei Jungen und damit den Männern verbessern.
Noch eine letzte Frage, was möchten Sie dem Leser mitgeben, bevor er Ihr Buch aufschlägt und liest?
Die Offenheit und Empathie sich auf Jungen und ihre gesundheitlichen Probleme einzulassen.
Vielen Dank für das Interview, Ihre Zeit und Mühe.
Das Interview führte Joanna Amor.