Über existenzielle Themen in der Psychotherapie, ihre Bedeutung in der Therapie und die „Wertschätzung der Krise“ haben wir mit unserem Autor Ralf T. Vogel gesprochen.
Was sind existenzielle Themen?
Man versteht darunter diejenigen Aspekte des Menschseins, die unabhängig von Lebensgeschichte, Lebenssituation oder Persönlichkeit unser Dasein bestimmen.
Im Allgemeinen werden die Fragen nach Endlichkeit und Tod, nach Sinnhaftigkeit, nach Freiheit und nach Beziehung dazu gerechnet.
Welche emotionalen Reaktionen oder gar psychischen Probleme können aus der Beschäftigung mit solchen existenziellen Fragestellungen hervorgehen und warum?
Die existenziellen Themen verlangen von uns allen eine bewusste Auseinandersetzung und ein Ringen um eine Haltung und Einstellung dazu. Missverstanden könnten sie als pathologisch angesehen werden, etwa wenn man sich stark mit der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt.
Nicht selten sind aber auch wenig gelungene Abwehrprozeduren (z. B. die Verdrängung der eigenen Sterblichkeit) oder dysfunktionale Antwortversuche (z. B. Vermeidung jeglicher Risiken) für psychische Symptome verantwortlich.
Warum ist eine Auseinandersetzung mit diesen Themen in der Psychotherapie wichtig?
Wie alle Menschen so sind auch unsere PatientInnen mit den existenziellen Themen befasst und in der Therapie muss Raum geschaffen werden, sich ihnen konstruktiv zuzuwenden. Daneben ist davon auszugehen, dass jede psychische Symptomatik besondere existenzielle Themen nach vorne bringt, so wie z. B. PatientInnen mit Zwangsstörungen direkt dem menschlichen Freiheitsthema gegenüberstehen.
Welche Therapieschulen berücksichtigen das »Existenzielle« in ihrer Theorie und Praxis?
Es gibt in den klassischen Therapieschulen, der psychodynamischen und der verhaltenstherapeutischen Richtung, seit einiger Zeit ein zunehmendes Interesse an existenziellen Themen. Daneben gibt es aber die ‚Existenz-Spezialisten‘, wie z. B. die Logotherapie, die Existenzielle Psychotherapie, die Daseinsanalyse oder die Analytische Psychologie C. G. Jungs.
Was können TherapeutInnen leisten? Wo liegen die Grenzen bzw. was sind besondere Herausforderungen?
Existenzielle Themen sind per defintionem ‚unlösbar‘. Die Herausforderung besteht darin, sich mit den PatientInnen auf einen diese Themen bewusstmachenden und sie dann mit Interesse umkreisenden Weg zu begeben, ohne selbst letztendliche Antworten zu haben. Die existenzielle Verunsicherung, die mit der Beschäftigung mit den existenziellen Themen zwangsläufig einhergeht, erfasst dann auch den/die TherapeutIn und er/sie braucht eine sichere eigene Haltung.
In der aktuellen Corona-Krise scheinen gleich mehrere der genannten existenziellen Themen betroffen. Welche psychischen Folgen wird dies nach sich ziehen?
Die meisten Menschen sind auf diese schnelle und harte Konfrontation mit den existenziellen Themen nicht vorbereitet. Ängste, Unsicherheiten und Versuche diese durch z. T. völlig irrationale Aktionen in den Griff zu bekommen, sind zu beobachten. Gleichzeitig bekommen biografiegeschichtlich ‚alte‘ Problemstellungen, die längst überwunden geglaubt waren, neue Energie.
Was ist nun besonders wichtig für TherapeutInnen? Was können diese in der aktuellen Situation tun?
Wie generell immer ist es gerade jetzt wichtig, als TherapeutIn diesen Themen nicht auszuweichen, sondern sich zusammen mit den PatientInnen diesen mutig zu stellen und das Aushalten von Unsicherheit und Ungewissheit einzuüben.
Sie schreiben in Ihrem Buch über die „Wertschätzung der Krise“.
Gibt es positive Aspekte, die wir einer solchen Krise abgewinnen können?
Das ist sicher für die meisten Menschen möglich, ohne das Leid und die Not damit kleinreden zu wollen. Wo genau die Chancen liegen, ist sehr individuell. Ganz generell aber ist die Konfrontation mit dem Existenziellen immer ein Weckruf, der uns zu einer authentischen Lebensführung auffordert. Existenzielle Notlagen bringen immer auch kompensatorische Kräfte hervor, Kreativität erwacht und ungeahnte Ressourcen scheinen auf.
Vielen herzlichen Dank für das Interview!