Anlässlich des Erscheinens des neuesten Bandes aus der Reihe „Religionspädagogik innovativ“ führten wir mit Prof. Dr. Mendl, Autor des Werkes „Modelle – Vorbilder – Leitfiguren“, das folgende schriftliche Interview.
Wer kann ein Vorbild sein?
Jeder Mensch, der mich zum Nachdenken bringt, kann ein Vorbild sein. Wir bestimmen also das Vorbild nicht an sich, sondern von seiner Wirkung auf andere Menschen aus. Das kann dann der Nachbar von nebenan, die Mutter, ein Promi, ein Heiliger oder eine Held der Geschichte sein. Entscheidend ist, dass mich irgendeine Aussage, Entscheidung, Handlung oder Tat der anderen Person bewegt: Was stand für die Person auf den Spiel, welche Werte standen zur Disposition, was übersteigt den Alltag, was regt mich zum Nachdenken an?
Das heißt also, Vorbilder müssen keine außergewöhnlichen Menschen oder Berühmtheiten sein?
Wenn ich zunächst den besonderen Wert der „Helden des Alltags“ herausstelle, dann geschieht dies aus theologischen und lernpsychologischen Gründen. Der Weg zur Heiligkeit erfolgt nicht nach einer Gipfelstürmer-Mentalität, sondern nach dem „Prinzip der Gradualität“ (Papst Johannes Paul II), also Schritt für Schritt. Und Moralpsychologen legen nahe, dass wir mit einer Ethik, die zwei oder drei Stufen über unserem aktuellen Wertebewusstsein liegen, überfordert sind – hilfreich ist vielmehr eine Stimulation zur nächsten erreichbaren Stufe. Deshalb eignen sich nahe Vorbilder zunächst besser als weit entfernte. Gleichzeitig taugt, wenn man lernpsychologisch verantwortlich damit arbeitet, jeder Mensch zu einem Spiegelbild: Helden der Geschichte, große Heilige, Idole und Stars der Medienwelt, aber auch die Menschen in der näheren Umgebung – Lehrer, Trainer, Freunde, Eltern, Großeltern – und sogar Antihelden oder gebrochene Biografien. Jeder Mensch kann ein Gegenstand der Anschauung werden!
„Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen, es ist die einzige.“ Albert Schweitzer
Was ist die Besonderheit dieser „Local heroes“?
„Local heroes“ oder „Heilige der Unscheinbarkeit“ (Romano Guardini) sind Menschen wie du und ich. Sie zeigen, dass es inmitten eines ganz normalen Lebens in unserer Gesellschaft möglich ist, den Blick für andere Menschen offen zu halten und sich zivilcouragiert oder sozial engagiert zu verhalten. Bei den Auseinandersetzung mit großen Vorbildern entsteht schnell Frustration: „So kann – und will – ich gar nicht werden!“ Die „Helden des Alltags“ weisen dem entgegen auf erreichbare Horizonte hin. Sie sind keine perfekten Menschen, heben sich aber in einem Handlungssegment von der Masse ab. Das macht sie pädagogisch so wertvoll! Auf meiner Datenbank der „Local heroes“ finden Sie zahlreiche Beispiele von Local heroes verschiedenen Alters und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, alphabetisch angeordnet von „Aids“ und „Altenhilfe“ bis zu „Zivilcourage“ und „Zivildienst“.
In Zeiten, in denen besonderer Wert auf die Individualität und Autonomie der Schülerinnen und Schüler gelegt wird, drängt sich die Frage auf, warum es noch zeitgemäß ist, sich an Vorbildern zu orientieren?
Der Mythos der Moderne, der selbstbestimmte Mensch könnte sich aus eigener Kraft eine stabile Identität stiften, hat sich längst verflüchtigt. Orientierungsmarken außerhalb der eigenen Person verleihen dem Einzelnen in einer schnelllebigen und unsicheren Zeit Sicherheit. Ja, alle empirischen Daten zeigen: Heutige Kinder und Jugendliche geben, verglichen mit vor 20 Jahren, signifikant häufiger an, ein Vorbild zu haben. Auch die modernen Zivilgesellschaften sind auf „Helden des Alltags“ angewiesen – Menschen, die zeigen, dass man in einer Wohlstandgesellschaft leben kann und gleichzeitig dem Blick für den anderen nicht aussparen muss. Solche Personen sind der gesellschaftliche Kitt: Solange es sie gibt, gerät die Welt nicht aus den Fugen!
Wie hat man sich ein solches Lernen an fremden Biografien vorzustellen?
Entscheidend ist, dass man sich von einem lernpsychologisch und religionspädagogisch überkommenen Umgang mit Vorbildern löst. Es bringt nichts, Vorbilder auf einen Sockel zu stellen, „seht, wie gut dieser Mensch ist“ zu sagen und auf Nachahmung zu appellieren. Modelltheoretisch und diskursethisch begründet erfolgt eine Beschäftigung mit ausgewählten Lebenssituationen von Vorbildern mit dem Ziel einer kritischen Auseinandersetzung. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich in solche Situationen einklinken, sie sollen überlegen, wie sie selber handeln würden, sie sollen lernen, über die Folgen von Lebensentscheidung für das Individuum und die Gesellschaft nachzudenken. Vielleicht klingt es etwas paradox: Gerade dadurch, dass ich als Lehrer nicht unmittelbar auf eine Verhaltensänderung bei meinen Kindern und Jugendlichen abziele, erreiche ich am meisten! Studien belegen, dass Jugendliche, die regelmäßig mit moralischen Dilemmata konfrontiert sind, sich in ihrem Wertebewusstsein deutlich weiterentwickeln. Dafür gibt es inzwischen eine ganze Palette diskursethisch ausgerichteter Methoden, die ich in meinem Buch auch darstelle und mit Beispielen erläutere.
Kann man auch am Vorbild scheitern?
Die Gefahr war früher größer, als man die großen Vorbilder als „pädagogischen Lebertran“, als „pädagogische Kolosse“ und „peinliche Überbautypen“ präsentiert hat, wie das Siegfried Lenz in seiner Erzählung „Das Vorbild“ (1973) so unnachahmlich darstellt: Diese „erdrückenden Denkmäler“ zwingen „jungen Leuten einen Minderwertigkeitskomplex“ auf. Ein verantwortlicher Umgang mit Vorbildern versucht die Gefahr der Überforderung, aber auch der Unterforderung der Schülerinnen und Schüler zu vermeiden. Jedes Lernen an fremden Biografien erfolgt im Kontext eines biografischen Lernens; Ziel sind also die lernenden Subjekte selbst, denen über die Auseinandersetzung mit anderen Biografien herausforderndes Material für die eigene Identitätsentwicklung zugespielt wird. Am Ende der Zeiten wird die Frage nicht lauten: „Wieso bist du nicht Mose gewesen?“, sie wird vielmehr lauten: „Wieso bist du nicht du selber gewesen?“, heißt es sinngemäß in einer chassidischen Erzählung von Martin Buber.
Modelle, Vorbilder, Leitfiguren, Helden, Heilige, Idole – worin unterscheiden sich die Begriffe?
Wenn wir streng vom lernenden Subjekt aus denken, dann macht es keinen Unterschied, ob ich am heiligen Nikolaus als Modell für die Güte Gottes, an meiner Mutter als Vorbild für ein altruistisch-fürsorgliches Verhalten, an der Leitfigur des Neues wagenden Abraham, an einem zivilcouragierten Lebensretter, am heiligen Franziskus in seinem Umgang mit Schöpfung und Armut oder an einem Popidol wie Katy Perry oder einem Fußballer wie David Alaba lerne. In der Pädagogik neigte man dazu, die guten großen Vorbilder gegen die schlechten Idole gegeneinander auszuspielen. Das ist Unsinn. Denn aus der Schülerperspektive ist klar: Man merkt die Absicht und ist verstimmt …
Welche Konzepte von „Heiligkeit“ gibt es in Theologie und Kirche, und welches ist das tragfähigere für die heutige Welt?
Kirchensoziologisch ist der ganze Komplex der Heiligsprechung, wie er in der katholischen Kirche vollzogen wird, problematisch. Die Kirche spricht fast nur zölibatär lebende Menschen, in der Mehrzahl Männer, heilig. Wenn aber Heilige Repräsentanten für das sein sollen, was Christsein ausmacht, wie es im Erwachsenenkatechismus heißt, dann stellt sich die Frage, wo es eine Andockstelle für den Normalchristen – z.B. für verheiratete Menschen – gibt. Von daher stelle ich diesem asketischen Heiligkeitsmodell ein Modell entgehen, das stärker prozesshaft angelegt ist und zum nächsten Schritt auf der Stufenleiter der eigenen Heiligung einlädt: Das sind dann eben die „Heiligen der Unscheinbarkeit“. Da kommt es nicht darauf an, etwas außergewöhnlich Herausragendes zu tun, sondern das, was der Tag und Stunde jeweils von mir verlangt, wie dies Romano Guardini umschrieben habe. Wenn Sie so wollen: Das Heiligsprechungsmodell der Kirche ergänze ich mit dem graswurzelartig angelegten Projekt der Local heroes. Das ist so etwas wie Microsoft gegen Linux…
Wir danken Ihnen für Ihre Mühe und Ihre Zeit.
Das Interview führte Julia Zubcic.
Wir verweisen an dieser Stelle auch gerne auf ein Interview, das Professor Mendl am 11.02.2010 bei Deutschlandradio Kultur gegeben hat: Hans Mendl: Dominik Brunner bleibt ein Held