Professor Dr. Marcus Höreth hat kürzlich im Kohlhammer Verlag sein neues Buch “Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland” in der Reihe „Brennpunkt Politik“ veröffentlicht. Zum Erscheinen führten wir ein kurzes Interview mit ihm.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland scheint auf den ersten Blick ein trockenes, ja fast langweiliges juristisches Thema zu sein. Warum sollte man den Band trotzdem lesen?
Weil es Mythen entlarvt – und das ist eigentlich immer spannend! Es gibt kein anderes Verfassungsorgan, um das sich mehr Mythen ranken als um diese Karlsruher Institution. Es wird z.B. kolportiert, dass bereits die Mütter und Väter des Grundgesetzes das mächtigste Verfassungsgericht der Welt geschaffen haben – in Wahrheit haben sich die Richterinnen und Richter in ihrer Rechtsprechung selbst zum Verfassungsorgan und „Hüter der Verfassung“ autorisiert, der die Geschicke der Bundesrepublik bis heute maßgeblich beeinflusst. Aber Karlsruhe war nicht von Anfang an so mächtig. Wie das Gericht in der Anfangszeit um seine Deutungsmacht gekämpft und diese dann mit juridischen Mitteln Schritt für Schritt gegen den Widerstand der Politik ausgeweitet hat, gehört deshalb zu den spannendsten Kapiteln der bundesdeutschen Geschichte. Ein weiterer zählebiger Mythos ist, dass das Gericht lediglich Recht spreche, aber selbst keine Politik mache. Das ist grundfalsch, denn Verfassungsrecht und Politik lassen sich nicht messerscharf voneinander trennen, im Gegenteil: Verfassungsrecht ist politisches Recht.
Ihr leicht verständliches und sehr gut geschriebenes Buch begeistert, beim Lesen versteht man das Handeln von Bundesverfassungsgericht, politischer Institution und Rechtswesen viel besser. Warum ist es aber wichtig, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist es wichtig zu erkennen, unter welchen Rahmenbedingungen politische Entscheidungen zustande kommen, um sie zu verstehen. Das Verfassungsrecht gibt da entscheidende Rahmenbedingungen vor, die sich nicht nur auf die Art und Weise auswirken, wie Politik gemacht wird, sondern auch auf die Inhalte der Politik selbst. Die Verfassungsrichter machen der Politik also gerne auch immer wieder inhaltliche Vorgaben – und die Politiker antizipieren diese Rechtsprechung oft auch schon im Vorfeld und passen demgemäß ihre Gesetze an, und zwar manchmal ohne dass das Gericht sich hierzu bereits konkret geäußert hätte. Eine Niederlage in Karlsruhe will die Regierungsmehrheit in Berlin natürlich tunlichst vermeiden; deshalb übt man sich gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam. Das wiederum ist im demokratischen Verfassungsstaat durchaus so gewollt, denn es sorgt dafür, dass die Verfassungsbestimmungen (in der Lesart des Gerichts) eingehalten werden.
Welchen immensen Einfluss die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht auf die Gesellschaft hat und wie es die Rechtsordnung verändert, wird in diesem Band überaus deutlich. Folgt die Verfassungsgerichtsbarkeit also dem gesellschaftlichen Wandel oder verändert die Verfassungsgerichtsbarkeit die Gesellschaft?
Beides! Zu Beginn war die Rechtsprechung des BVerfG außerordentlich fortschrittlich, weil sich die Bundesrepublik – so der Wille der Mütter und Väter des GG – zwar von der NS-Vergangenheit möglichst klar absetzen sollte, viele politische und juristische Eliten mit NS-Vergangenheit aber doch kräftig auf die Bremse drückten und dem gesellschaftlichen Wandel aufhielten. Besonders wichtig scheint mir daher die Erkenntnis, dass das Gericht in vielerlei Hinsicht Garant der zunächst keineswegs gefestigten zweiten deutschen Demokratie war. Die in den 50ern und 60er Jahre stattfindende Liberalisierung der Rechtsordnung geht ganz klar auf das Konto des Verfassungsgerichts – die konservative Regierung Adenauer sah das keineswegs immer mit Wohlwollen, konnte aber kaum etwas dagegen unternehmen. Hier war also das Gericht der Motor des gesellschaftlichen Wandels. Später, unter der sozialdemokratischen Brandt-Regierung, nahm es eine andere Rolle ein – es bremste den gesellschaftlichen Fortschritt: es verhinderte anfänglich viele wichtige Reformvorhaben der sozialliberalen Koalition, es blockierte den Grundlagenvertrag, die Reform der Hochschulorganisation, die Wehrpflichtreform und es verhinderte schließlich – zunächst – die Einführung der Fristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch. In der Gegenwart führt das Gericht Rückzugsgefechte gegen die europäische Integration, denn es vermag diese nur insoweit normativ anzuerkennen, als sie nicht die Verfassungssouveränität des deutschen Nationalstaats (und damit die Rolle des Gerichts als Instanz des letzten Wortes in allen verfassungsrechtlich relevanten Fragen) ablöst – doch bei Lichte betrachtet ist exakt dieses, die allmähliche Ablösung des nationalstaatlichen Modells und seine sukzessive Ergänzung und Ersetzung durch die Europäische Union, von Anfang an im europäischen Integrationsprogramm eingeschrieben. Das Gericht stellt sich also einer Entwicklung entgegen, die es kaum aufhalten kann und wirkt so manchmal doch als Bremser gesellschaftlicher und verfassungspolitischer Entwicklungen in Europa. Das muss man jedoch nicht nur negativ bewerten.
Personalfragen sind ja auch immer Machtfragen, macht das Bundesverfassungsgericht Politik, ist das Bundesverfassungsgericht Ersatzgesetzgeber oder eher Kontrolleur der Politik?
Das BVerfG macht Politik, genauer: Verfassungspolitik. Das Gericht muss aber, im Gegensatz zu politischen Entscheidungsträgern, seine Entscheidungen normativ begründen. Und es bleibt ja genug zu entscheiden, denn es hat schon früh – in seiner berühmten „Lüth“-Entscheidung – dafür gesorgt, dass aufgrund der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte prinzipiell jede Rechtsfrage als Verfassungsfrage vor dem Gericht in Karlsruhe landen kann. Umgekehrt haben folgerichtig dann verfassungsgerichtliche Entscheidungen häufig auch Recht setzenden Charakter. Das BVerfG ist daher beides: Kontrolleur der Politik und Ersatzgesetzgeber. Letzteres vor allem dort, wo die demokratisch legitimierte Politik untätig bleibt. Oft genug schließt es also Lücken im Recht, an die sich die Politiker nicht so recht trauen, weil sie den Wähler fürchten. Das BVerfG ist gerade dann besonders aktiv, wenn Politiker manche heiklen Fragen nicht selbst per Gesetzgebung regeln wollen. Um es klar zu sagen: der häufige Vorwurf von politischer Seite, das Gericht betreibe Politik bzw. mische sich zu stark in die Politik ein, fällt auf die Politik selbst zurück, denn für sie ist es oft genug sehr bequem, unpopuläre Entscheidungen zu vermeiden und durch entsprechende Vorlagen dafür zu sorgen, dass das Gericht an ihrer Stelle entscheidet. Die Frage, ob man etwa gleichgeschlechtliche Partnerschaften als eingetragene Lebenspartnerschaften beim Ehegattensplitting genauso behandeln müsse wie herkömmliche Ehen, hätte die Politik schon selbst seit langem entscheiden können bzw. müssen. Da sich vor allem die CDU aus Rücksicht um ihre eigene Mitglieder- und Anhängerschaft jahrelang nicht an das heiße Eisen heranwagte, musste Karlsruhe an Stelle des verfassungsändernden Gesetzgebers endlich eine diesbezügliche Grundsatzentscheidung treffen und stellte – zunächst einmal im Steuerrecht – homosexuelle Partnerschaften mit Ehen grundsätzlich gleich und musste sich von konservativer Seite massive Kritik gefallen lassen. Ob diese Kritik berechtigt ist, muss – je nach politischer Anschauung – jeder für sich entscheiden.
Gibt es – auch international – Standards der Verfassungsgerichtsbarkeit oder versteht jedes Land, jede Rechtskultur die Verfassungsgerichtsbarkeit anders, die Verfassungen sind ja auch ganz unterschiedlich, schon allein, ob sie als einzelnes schriftliches Dokument oder aus der Rechtskultur entwickelt worden ist?
Die grundsätzlichen Standards sind in allen demokratischen Verfassungsstaaten im Grunde gleich, nur die Vorkehrungen für deren Einhaltung sind unterschiedlich geregelt. Die Verfassung genießt Vorrang gegenüber dem einfachen Recht und damit auch gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber. Um diesen Vorrang zu schützen, bedarf es Institutionen, die mit dem richterlichen Prüfungsrecht ausgestattet sind. Wie das Hüten der Verfassung organisiert wird, ist allerdings in verschiedenen Rechtskulturen ganz unterschiedlich. Während in den USA z.B. alle Gerichte ein richterliches Normüberprüfungs- und Verwerfungsrecht besitzen, besitzt in Deutschland nur das BVerfG eine derartige Verwerfungskompetenz.
Was möchten Sie dem Leser noch gerne mitgeben, bevor er Ihr Buch aufschlägt?
Man sollte aufgeschlossen sein, weil im Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit dort manches kritisch hinterfragt wird, was hierzulande als wenig hinterfragter Glaubenssatz gilt. Eigentlich kann man das BVerfG nicht genug loben für seine in über 6 Jahrzenten erbrachten Leistungen für die Bundesrepublik. Man sollte aber eben auch erkennen, dass selbst die hochanerkannten Richterpersönlichkeiten aus Fleisch und Blut sind, die – wie demokratisch gewählte Politiker auch – nach Macht und Prestige streben.
Für Ihre Zeit und Mühe bedanken wir uns sehr herzlich.
Professor Dr. Marcus Höreth lehrt Politikwissenschaft an der TU Kaiserslautern.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn.