Anlässlich des Erscheinens des Bandes „Living History als Gegenstand historischen Lernens“ von Dr. Miriam Sénécheau und Dr. Stefanie Samida führten wir mit den Autorinnen das folgende schriftliche Interview:
Ein englischer Titel auf einem deutschen Buch – was hat es damit auf sich?
Stefanie Samida: Bis heute gibt es keine angemessene deutsche Übersetzung der englischen Wendung „Living History“. Sie wird zumeist mit „gelebte Geschichte“ oder „erlebte Geschichte“, bisweilen auch mit „Geschichte erleben“ übersetzt, aber letztlich trifft es das jeweils nicht. Aus diesem Grund hat sich der englische Begriff auch im Deutschen durchgesetzt. Gleiches gilt für die Bezeichnung „Reenactment“, die man auch nicht gut ins Deutsche übertragen kann, denn es steckt eben mehr als „Geschichte erleben“ oder „Nachspielen“ hinter diesen Geschichtsdarstellungen und -aneignungen.
Warum ist es wichtig, die Living History wissenschaftlich zu untersuchen? Man könnte ja auch sagen, dass man in der Freizeit machen kann, was man will, also eben auch Germane spielen?
Miriam Sénécheau: Die Living History ist beim Publikum äußerst beliebt, weil sie Geschichte lebendig und „greifbar“ vermittelt. Sie lässt für die Zuschauer auf der einen Seite eindrückliche Bilder von der Vergangenheit entstehen. Sie ermöglicht ihren Darstellern auf der anderen Seite einen großen Reichtum an interessanten Freizeitbeschäftigungen. Dabei greift sie aber nicht nur auf wissenschaftliche Erkenntnisse sondern auch auf vorhandene Klischees zurück oder schafft neue Stereotype. Uns ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu wecken, woher unsere heutigen Bilder von Vergangenheit kommen. Die Living History begegnet uns im deutschsprachigen Raum heute als ein relativ junges Phänomen, insbesondere im Kontext von Freilichtmuseen. Aber ihre Wurzeln reichen weiter zurück, darunter bis in Zeiten intensiver politischer Indienstnahmen. Im Vergleich zwischen heutiger und damaliger Living History Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten zu können erscheint uns als eine grundlegende Fähigkeit für eine kritische und wache Auseinandersetzung mit moderner Geschichtskultur.
An wen richtet sich Ihr Buch: den Akteur, den Wissenschaftler, den Studierenden oder an jemand ganz anderen?
Miriam Sénécheau: Das Buch richtet sich an alle von Ihnen genannten Kreise. Jeder wird etwas für sich herausziehen können. Eine weitere wichtige Zielgruppe sind Lehrerinnen und Lehrer, die mit Hilfe der von uns bereitgestellten Materialien das Thema Geschichtskultur in den Schulunterricht integrieren können. Wir denken beim Adressatenkreis außerdem an Lehrende im Bereich der Public History oder der Archäologie. Das Buch erleichtert dort die Vor- und Nachbereitung von Seminarthemen.
Was fasziniert an den Germanen heute noch? Lassen sich Gründe finden, warum Menschen heute verkleidet durch den Wald stürmen oder altes Handwerk neu erlernen?
Stefanie Samida: Ähnlich wie den Kelten wird auch den Germanen eine Naturverbundenheit nachgesagt, die viele Menschen in unserer technisierten Welt vermissen. Andere wiederum fasziniert die Idee, vermeintlich auf den Spuren ihrer Vorfahren zu wandeln und so zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren. Wieder andere haben einfach Spaß daran, Handwerkstechniken auszuprobieren. Hier können sie selbst mit ihren Händen etwas tun.
Was hat Sie am Thema so fasziniert, dass Sie sich nun mehrere Jahre damit beschäftigt haben?
Stefanie Samida: Ein Grund für die Beschäftigung mit dem Thema war für mich die Frage, warum Menschen versuchen, in die Vergangenheit „einzutauchen“, sich also in eine fremde Lebenswelt zu begeben, die der unsrigen völlig entgegensteht. Was sind die Motive dafür? Geht es um die Vermittlung von Wissen? Ist es eine Flucht aus dem Alltag? Geht es um extreme körperliche Erfahrungen? Generalisierungen sind schwierig, weshalb es gerade die Einzelfälle sind, die dieses Feld so spannend für die Wissenschaft machen.
Miriam Sénécheau: Mich interessiert schon immer die Frage, warum Geschichte wie dargestellt wird – welche Interpretationen aus der Vergangenheit dabei weiter existieren und zusammen mit Themen, die aus der heutigen Gesellschaft heraus mit Geschichte verbunden werden, unsere Vorstellungen darüber prägen. Wer nutzt Geschichte wie und warum? Was können wir daraus lernen? Dazu können wir noch lange weiterforschen.
Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Zeit und Mühe.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn