Vor zehn Jahren starb Ralf Dahrendorf. Nun liegt eine neue Darstellung mit dem Titel „Ralf Dahrendorf. Denker, Politiker, Publizist“ von Thomas Hauser vor. Hauser ist Herausgeber und eheÂmaÂliÂger ChefÂredakÂteur der BadiÂschen Zeitung in Freiburg, für die auch Ralf Dahrendorf über ein JahrÂzehnt lang BeiÂträge geschrieben hat. Aus dieÂsem AnÂlass führte der Kohlhammer Verlag mit dem Autor das folÂgende InterÂview schriftlich.
Was fasziniert Sie an Ralf Dahrendorf?
Seine Offenheit, sein enormes Wissen und seine analytische Schärfe. Jürgen Habermas meinte einmal, bis er und andere einen neuen Autor wahrgenommen hatten, hatte Dahrendorf schon alles von dem gelesen. Wenn ich mit ihm diskutierte, wollte er mich aber nicht überzeugen, sondern er regte eigenes NachÂdenken an.
Was war die überraschendste Erkenntnis beim Entstehungsprozess des Buches?
Dass Dahrendorf seine Erkenntnisse im Licht der aktuellen Wirklichkeit immer wieder hinterfragt und weiterentwickelt hat und zwar manchmal an Orten, an denen man das kaum vermuten würde. So hat er sein Werk „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“, das Anfang der 60er-Jahre entstand, 2006 in einer Rede im Filmmuseum Potsdam-Babelsberg als Skizze bis in die Gegenwart weitergeführt. Er bietet Grundsätze und Werkzeuge aber keine HandlungsÂanleitung. Das macht ihn unbequem, aber spannend.
Dahrendorf hat auch journalistische Artikel für die Badische Zeitung geÂschrieÂben, deren Herausgeber Sie sind. Sie sind sich persönlich immer wieder begegnet. Was zeichnete Dahrendorfs journalistische Arbeiten aus?
Er konnte die Dinge verständlich auf den Punkt bringen. Und er war Analytiker von erstaunlicher Weitsicht.
Welche Bedeutung kommt Dahrendorf heute zu?
Aktuell wird er unterschätzt. Als liberaler Denker geriet er in den Schatten des ökonomischen Neoliberalismus und des kalten politischen Profils der FDP – beides fatale Irrwege liberalen Denkens. Dabei ist er nicht nur der Erfinder des Bürgerrechts auf Bildung, sondern hat mit seinem Buch „Lebenschancen“ auch analysiert, dass Bürgerrechte ein Umfeld von Bindungen, Ritualen und Gewohnheiten brauchen, damit sie überhaupt wahrgenommen werden können. Und seine Analysen sind erstaunlich aktuell.
Was kann man bis heute von Dahrendorf lernen?
Dass Staat und Wirtschaft der Bürgergesellschaft zu dienen haben, dies aber nicht freiwillig tun. Freiheit und Bürgerrechte sind zudem auch deshalb permanent gefährdet, weil viele Bürgerinnen und Bürger Angst vor der Freiheit haben oder sie gegen Bequemlichkeit einzutauschen bereit sind.
In welcher Hinsicht kann er heute noch als Vorbild dienen?
Er war gegen autoritäre Versuchungen immun.
Dahrendorf bewegte sich sein Leben lang zwischen den ‚Welten‘. In welcher Weise haben ihn diese Erfahrungen geprägt?
Sie haben seinen Horizont offen gehalten, immer wieder erweitert und ihm ermöglicht, sich das seiner Meinung nach Beste aus allen Welten herausÂzuÂsuchen. Zugleich hat ihn das aber eher ernüchtert. Er war sich der BeÂgrenztÂheit menschÂliÂchen Denkens, der FehlÂbarÂkeit menschlichen Handels, und der Verführbarkeit von Individuen und Gesellschaften immer bewusst. Das Brexit-Drama in seiner Lieblingsdemokratie Großbritannien hätte ihn aber wahrscheinlich verzweifeln lassen.
Warum sollte man Ihr Buch unbedingt in die Hand nehmen und lesen?
Weil es neugierig macht, sich mit dem Menschen Dahrendorf und seinem Denken intensiver auseinanderzusetzen. Da gibt es viel zu entdecken und viele AnÂreÂgungÂen zum selbstständigen Weiterdenken.
Dahrendorf war ein Intellektueller, Wissenschaftler, Soziologe, Politiker und ein kritischer Geist. Gibt es bis heute solche Persönlichkeiten, die auf solch mannigfachen Gebieten tätig sind und die eine so große Wahrnehmung in der Öffentlichkeit haben, oder ist sein Wirken eng verwurzelt mit den Strukturen der damaligen Zeit?
Denken entwickelt sich immer in seiner Zeit, große Denker aber denken über ihre Zeit hinaus. Menschen wie Dahrendorf waren schon immer selten und sie haben es aktuell wahrscheinlich noch schwerer, weil sie nicht in die Kurzatmigkeit, AufÂgeregtÂheit und das Schwarz-Weiß-Denken unserer Zeit pressen lassen, in der intelÂlekÂtuell fast schon ein Schimpfwort ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Zeit.
Das Interview führte Dr. Peter Kritzinger.