Prof. Dr. Siegfried Weichlein ist Experte auf dem Gebiet der Zeitgeschichte: Als Professor für Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Freiburg (Schweiz) hat er maßgebende Forschungsarbeiten zum politischen System Deutschlands, zum Föderalismus und zur deutschen Geschichte nach 1945 vorgelegt. In sein neues Buch mit dem Titel „Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik“ bringt er diese umfassende Expertise ein und schildert nachvollziehbar die lange und widersprüchliche Beziehungsgeschichte zweier politischer Systeme.
Ihr Buch zeichnet das Verhältnis zwischen Föderalismus und Demokratie nach 1945 bis zur Zeit nach der Wiedervereinigung nach. Wie kam es zur Etablierung des Föderalismus nach 1945?
Der Föderalismus war als Ordnungsmodell nach 1945 im Westen attraktiv, weil er jede Form von Diktatur zu verhindern versprach. Schließlich hatten die Nationalsozialisten als erstes den Föderalismus abgeschafft. In einer föderalen Ordnung würde es keine zentralistische Diktatur mehr geben können. Hinzu kamen die älteren Linien aus dem 19. Jahrhundert. Schon das Kaiserreich war ein Bundesstaat gewesen, wenn auch kein demokratischer. 1949 griff man auf verschiedene Momente aus der Geschichte des Föderalismus zurück und setze sie neu zusammen.
Sie machen deutlich, dass Föderalismus und Demokratie ein politisch Ganzes ergeben können, aber ihr Verhältnis auch zahlreiche Konfliktpotentiale birgt. Welcher Kritik war die Verbindung von Demokratie und Föderalismus ausgesetzt?
Die Kritik am Föderalismus zielte immer wieder auf seine demokratischen Defizite. Die meisten Vertreter in den föderalen Verhandlungsrunden waren wenn überhaupt nur indirekt legitimiert. Außerdem zogen entgegengesetzte Mehrheiten im Bundesrat und im Bundestag die Verhandlungen oft in die Länge. Der Föderalismus drohte, wie es Fritz Scharf ausdrückte, das politische System immobil zu machen. Auch im Projekt der europäischen Integration stellte die Bundesrepublik in dieser Hinsicht einen Spezialfall dar, weil sich die Länder Mitsprachrechte in Brüssel erkämpften. Das stieß immer wieder auf Skepsis.
In welcher Hinsicht hat sich föderale Struktur im Laufe der Jahrzehnte in Deutschland verändert bzw. was waren Meilensteine des Föderalismus in Deutschland?
Der Föderalismus hat sich seit 1949 mehrmals gründlich geändert. Aus der ursprünglichen Absicht, eine Diktatur zu verhindern, wurde immer mehr ein unitarischer Bundesstaat, der dem Gebot der Angleichung der Lebensverhältnisse folgte. Schließlich bot der kooperative Föderalismus, in dem Bund und Ländern in Gemeinschaftsaufgaben zusammenarbeiteten, den Rahmen für Gesamtplanung und Globalsteuerung in der Politik. Immer mehr Akteure und Interessenvertreter arbeiteten in den föderalen Gremien zusammen.
Ein Meilenstein für die Geschichte des Föderalismus war das Gutachten von Heinrich Troeger über die Finanzreform 1965. Was sehr technisch klang, bedeutete im Kern einen kompletten Umbau föderalen Regierens und einen Abschied vom Trennföderalismus. 1949 hatten die Alliierten darauf bestanden, Bund und Länder verschiedene Kompetenzen zuzuweisen und deutlich voneinander zu trennen. Das Troeger Gutachten veränderte den Finanzföderalismus und führte zum Großen Steuerverbund, der 1969 eingeführt wurde.
Ihr Buch erscheint passend zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes. Bietet dieser Anlass den Startpunkt für eine Staatsreform?
Der Ruf nach einer Reform des Föderalismus ist so alt wie die Geschichte der Bundesrepublik. Dabei kann man beobachten, dass der Wandel weniger durch die großen Kommissionen zur Bundesstaatsreform zustande kam. Er geschah vielmehr langsam und kontinuierlich. So wurde die Angleichung der Lebensverhältnisse nach 1949 zu so etwas wie einer nationalen Ersatzidentität. Sie beförderte gleiche Lebensbedingungen in allen Bundesländern und einen unitarischen Bundesstaat, wie es Konrad Hesse 1962 bezeichnete. Bis dahin waren Unitarismus und Föderalismus noch als Gegensätze gesehen worden.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Mühe.
Dieses Interview führte schriftlich Charlotte Kempf.