Dr. Senta Herkle (Universität Stuttgart), Prof. Dr. Sabine Holtz (Universität) und Gert Kollmer-von Oheimb-Loup (Universität Hohenheim) sind Herausgeber eines neuen Sammelbandes der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg mit dem Titel „1816 – Das Jahr ohne Sommer“. Der Band befasst sich mit den Auswirkungen des Ausbruchs des Tambora auf der indonesischen Insel Jarkata im Jahr 1815. Dieser Vulkanausbruch hatte weltweite klimatische Folgen und war auch im deutschen Südwesten zu spüren. Im Interview verraten die drei Herausgeber, wie die Zeitgenossen auf dieses Ereignis reagierten.
Während derzeit über zu heiße Sommer geklagt wird, entdecken Sie für das Jahr 1816 ein Jahr ohne Sommer. Was verbirgt sich dahinter?
Am Abend des 5. April 1815 war der Tambora, ein Vulkan auf der indonesischen Insel Sumbawa, ausgebrochen. Auf Bali und Java bis hoch nach Jakarta waren laute Explosionsgeräusche zu hören und in den Folgetagen fiel Ascheregen im Osten Javas. Dies war jedoch nur ein erster, mäßig starker Ausbruch. Die eigentliche, sehr viel größere Eruption ereignete sich dann am 10. und 11. April. Die Explosionen waren weit zu hören. Der Tambora büßte dabei ein Drittel seiner Höhe ein: Vor der Eruption hatte er eine geschätzte Höhe von 4300 m, heute misst er 2850 m. Mit ungeheurer Wucht soll der Berg insgesamt etwa 50 Kubikkilometer Pyroklastika in die Luft geschleudert haben. In Gebieten im Umkreis von 500 km blieb es etliche Tage nach der Eruption auch tagsüber durch die hohen Aschewolken dunkel.
Der Ausbruch hatte globale Folgen: Die ungeheuer großen Mengen an Schwebeteilchen in der Atmosphäre ließen das Klima abkühlen. Die monatlichen Temperaturen sollen im Sommer zwischen 2,3 und 4,6 Grad unter dem langjährigen Temperaturdurchschnitt gelegen haben. Je nach Weltregion war es entweder zu trocken (Ostküste Amerikas) oder zu kühl und zu nass (deutscher Südwesten).
Welche generellen Auswirkungen des Vulkanausbruchs können Sie für den deutschen Südwesten ausmachen?
Die Abkühlung der Durchschnittstemperatur hatte zur Folge, dass im Sommer 1816 auf der Schwäbischen Alb Schnee fiel, in anderen Regionen des deutschen Südwestens jagte ein Unwetter das nächste. Ein Göppinger Chronist hielt in seiner Stadtchronik fest, dass es in acht Monaten nur 29 Tage gegeben habe, an denen es nicht regnete. Der Eislinger Schulheiß hielt seinerzeit fest, die Sonne habe, alle Sommermonate zusammengerechnet, kaum zehn Tage geschienen. In der Folge traten Flüsse über die Ufer und die Überschwemmungen richteten große Schäden an. Das Heu und die Getreideernte konnten nur nass in die Scheuern gebracht werden und verdarb. Auch die Weinernte war gänzlich missraten. Die massive Lebensmittelknappheit bewirkte eine enorme Teuerung, die wiederum eine große Hungersnot auslöste, die bis in die Mitte der Gesellschaft reichte. Selbst im reichen Genf lag die Teuerungsrate bei über 200 Prozent, in Rorschach erreichte sie fast 600 Prozent. Die Existenzsicherung war nicht mehr gewährleistet, die Bettlerzahlen stiegen rasant an, Arme, Alte und Kranke verstarben.
Welche zeitgenössischen Bewältigungsstrategien und Reaktionen auf ein solches Naturereignis konnten Sie feststellen?
Zunächst kam es zu einer unkontrollierten Auswanderung, die heute als Wirtschaftsmigration bezeichnet werden würde. Die Not muss unvorstellbar groß gewesen sein, allein aus Kirchheim wanderten zwischen 1816 und 1819 insgesamt 189 Personen aus; die Stadt hatte damals rund 4 300 Einwohner.
Nach einer Phase der Hilflosigkeit suchten das Königshaus und die Regierung nach Wegen aus der Not. Königin Katharina rief im Januar 1817 den Wohltätigkeitsverein ins Leben, dessen erklärtes Ziel es war, Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten: Suppenküchen, Fürsorge für verwahrloste Kinder und Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung wurden ins Leben gerufen. In allen Oberämtern Württembergs und bis hinunter auf die kommunale Ebene entstanden Hilfsangebote. Die 1818 gegründete Landwirtschaftliche Musteranstalt in Hohenheim hatte die Aufgabe, an der Verbesserung von Anbaumethoden zu arbeiten, um künftig größere Erträge erzielen zu können. Die Einrichtung der Sparkasse 1818 sollte einerseits zum Sparen motivieren, andererseits Kredite ohne Wucher zur Verfügung zu stellen. Schließlich hat das Krisenjahr dazu beigetragen, den Verantwortlichen des Staates die Anfälligkeit des Primären Sektors (Landwirtschaft) deutlich vor Augen zu führen und damit stärker den Blick auf den sekundären Sektor (aufkommende Industrialisierung) zu lenken.
Wie wurde der Vulkanausbruch von den Zeitgenossen bewertet und beurteilt?
Der Vulkanausbruch selbst war den Zeitgenossen durchaus bekannt, viele Zeitungen erstatteten weltweit darüber Bericht. Allerdings konnte kein Zusammenhang zwischen dem Vulkanausbruch im fernen Indonesien und der massiven klimatischen Verschlechterung vor Ort hergestellt werden. Erst rund 100 Jahre später zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der amerikanische Atmosphärenphysiker William Jackson Humphreys den Ausbruch des Tambora als Auslöser der ungewöhnlichen Witterungsverhältnisse ausmachen. Auffällig ist, dass die Pfarrer beider Konfessionen, die sich ansonsten zur Deutung ihrer Lebenswelt berufen sahen, während der akuten Krise keine Schuldzuweisungen vornahmen. Vielmehr riefen sie zur Solidarität auf und verurteilten jeglichen Missbrauch streng. Gleichzeitig finden sich in den zeitgenössischen Quellen aber auch verschiedene Erklärungsansätze für die ungewöhnliche Wetterlage, die von Verschwörungen bis hin zu einem drohenden Weltuntergang reichen.
Herzlichen Dank für das Interview.
Dieses Interview führte schriftlich Charlotte Kempf.