Dr. Christoph Raichle ist seit 2013 wissenÂschaftÂlicher MitÂarÂbeiÂter an der UniÂverÂsiÂtät StuttÂgart am LehrÂstuhl für Neuere GeÂschichte soÂwie MitÂarÂbeiÂter der ForÂschungsÂstelle LudÂwigsÂburg. Der NaÂtioÂnalÂsoziaÂlisÂmus gehört zu seinen ForÂschungsÂschwerÂpunkten: So widmete er sich in seiner DoktorÂarbeit „Hitler als SymbolÂpoliÂtiker“ und setzt sich nun in seiner neuen MonoÂgraphie zur „FinanzÂverwaltung in Baden und WürtÂtemÂberg im NationalÂsoziaÂlisÂmus“ mit den TätigÂkeiten und HandÂlungsÂspielÂräumen dieser Behörde sowie ihrem Ansehen nach 1945 ausÂeinÂander. Mit diesem Werk bietet er erstÂmalig eine detailÂlierte AusÂwerÂtung der fisÂkaliÂschen Quellen dieser Zeit.
Was hat Sie zur UnterÂsuÂchung der FinanzÂverÂwalÂtung in Baden und WürtÂtemÂberg im NatioÂnalÂsoziaÂlisÂmus bewegt?
Ich inteÂresÂsieÂre mich schon länger für poliÂtische KulturÂgeschichte, also für die Frage, wie von vielen Menschen geteilÂte SinnÂmuster entÂstehen und wie sie sich im poliÂtiÂschen Raum ausÂwirken. Als mein DoktorÂvater, Prof. Dr. Wolfram Pyta (UniÂverÂsiÂtät StuttÂgart), mit dem AnÂgeÂbot an mich heÂranÂtrat, eine StuÂdie über die FiÂnanzÂverÂwalÂtung in Baden und WürtÂtemÂberg im „DritÂten Reich“ zu verÂfassen und dabei auch den Aspekt der VerÂwalÂtungsÂkulÂtur zu beÂrückÂsichÂtiÂgen, hat mich das soÂfort geÂpackt. Es sollÂte eine Studie über VerÂwalÂtungsÂgeÂschichÂte entÂsteÂhen, die nicht trocken die Rechts- und InsÂtiÂtuÂtioÂnenÂgeschichte refeÂriert, sonÂdern die sozuÂsagen mit Leben gefüllt wird: mit dem konÂkreÂten VerÂwalÂtungsÂhanÂdeln der BeÂamÂten vor Ort. NaÂtürÂlich gab es eine VielÂzahl weiÂteÂrer AÂspekÂte, die zu beÂrückÂsichÂtiÂgen waren, insÂbeÂsonÂdere hat mich dabei auch das SchickÂsal der OpÂfer inteÂresÂsiert, die vor der phyÂsiÂschen VerÂfolÂgung einer masÂsiÂven fiÂnanÂzielÂlen VerÂfolÂgung ausÂgeÂsetzt waÂren.
Ihre Arbeit ist ausÂgeÂsproÂchen umÂfangÂreich, detailÂliert und akriÂbisch reÂcherÂchiert. Auf welÂche VorÂarÂbeiÂten und Quellen konnÂte sich Ihre ArÂbeit stützen?
Die VorÂarbeiÂten für Baden und WürtÂtemÂberg sind, wenn es konÂkret um die FiÂnanzÂbeÂhörÂden geht, denkÂbar geÂring. Es gab nur eiÂnige knappe PubÂliÂkaÂtioÂnen von eheÂmaliÂgen BeÂamÂten der FiÂnanzÂverÂwalÂtung, die kaum auf das „Dritte Reich“ einÂginÂgen, schon gar nicht auf EinÂzelÂfraÂgen der fiÂnanÂzielÂlen AusÂplünÂderung der Juden. StattÂdessen zeichÂneten sie das Bild einer „sauÂbeÂren“ VerÂwalÂtung. Das hing auch damit zusamÂmen, dass man weitÂhin der AnÂsicht war, die BeÂamÂten vor Ort in den FiÂnanzÂämter hätÂten ohneÂhin nur die VerÂordÂnunÂgen aus BerÂlin BuchÂstabe für BuchÂstabe vollÂzogen, ohne eiÂgene HandÂlungsÂspielÂräume. Dabei mussÂten geÂrade die „EheÂmaliÂgen“ es besÂser wisÂsen.
Auch die QuelÂlenÂlage ist sehr schwieÂrig, ein großer Teil der releÂvanÂten AkÂten wurÂde 1944/45 zerÂstört. Und bis 1999 waren wegen des SteuerÂgeheimÂnisÂses nicht einÂmal diese weniÂgen noch erhalÂteÂnen AkÂten zuÂgängÂlich. Erst in den letzÂten 15 Jahren wurÂden in anÂdeÂren BunÂdesÂlänÂdern wisÂsenÂschaftÂliche StuÂdien zum Thema FiÂnanzÂverÂwalÂtung auf mittÂleÂrer und unÂteÂrer Ebene vorÂgeÂlegt. Diese StuÂdien waren als OrienÂtieÂrung sehr hilfÂreich. UnÂverÂzichtÂbar waren aber auch viele LokalÂstuÂdien, die eher nebenÂbei Details über die fiÂnanÂzielle VerÂfolÂgung von Juden berichten.
In welcher HinÂsicht beÂdeuÂtete der BeÂginn des NatioÂnalÂsoziaÂlisÂmus überÂhaupt einen EinÂschnitt für die FinÂanzÂverÂwaltung?
EntÂlasÂsen wurden 1933 nur sehr wenige FinanzÂbeamte. Man war auch im NaÂtioÂnalÂsoziaÂlisÂmus auf diese FachÂleute anÂgeÂwiesen. Die NSDAP setzte daÂher auf AnÂpasÂsung der BeÂamÂten und die NaziÂfiÂzieÂrung der PerÂsoÂnalÂpoliÂtik. Die BeÂamÂten standen von nun an unter dauernÂder poliÂtiÂscher BeÂobachÂtung und insÂtituÂtioÂnelÂlem Druck zur MitÂarÂbeit. Die DikÂtaÂtur ging auch an der FiÂnanzÂverÂwalÂtung nicht vorbei.
Auf steuÂerÂlichem Gebiet war der EinÂschnitt 1933 nicht so groß, die SteuerÂgeÂsetze blieÂben auf dem Papier zuÂnächst unÂverÂänÂdert. AllerÂdings bot die DikÂtaÂtur auch hier neue SpielÂräume für ParÂteiÂaktiÂvisten, für AntiÂsemiÂten oder schlicht für opporÂtunisÂtische KarrieÂrisÂten. Ebenso sind SteuerÂgeÂsetze, wenn es konÂkret wird, eine Sache der AusÂleÂgung und AusÂhandÂlung. Juden und poliÂtisch VerÂfolgÂte waren oft einÂgeÂschüchÂtert und trauÂten sich nicht mehr, EinÂspruch einÂzuÂlegen oder den RechtsÂweg zu beÂschreiÂten. Mit den Jahren wurden die Steuer- und DevisenÂgesetze dann so verÂänÂdert, dass gerade jüÂdiÂsche AusÂwanÂderer getroffen wurden. Diese kamen meist völlig verÂarmt im AusÂland an. Ab 1938 wurÂden dann ganz offen Juden über Steuern und AbÂgaben ausÂgeÂplünÂdert, beginnend mit der zyÂniÂschen „JudenÂverÂmögensÂabgabe“ nach dem NoÂvemÂberÂpogrom 1938. Wie auf andeÂren GebieÂten haben wir also über die Jahre eine schrittÂweise RadiÂkaliÂsieÂrung der VerÂfolÂgungsÂmaßÂnahÂmen, die ersten Risse im Damm stamÂmen aber aus dem Jahr 1933.
Welche HandÂlungsÂspielÂräume besaß die FiÂnanzÂverÂwalÂtung zur Zeit des NaÂtioÂnalÂsoziaÂlisÂmus?
ZenÂtrale Vorgaben kamen natürÂlich aus Berlin. Hier wurde der ProÂzess der RadiÂkaliÂsieÂrung geÂsteuÂert. Die KomÂpeÂtenÂzen des ReiÂches wuchÂsen nach 1933 durch „GleichÂschalÂtung“ und „VerÂreichÂliÂchung“. Das heißt aber nicht, dass es auf mittÂlerer und unÂteÂrer Ebene keine SpielÂräume mehr gab. In MannÂheim etwa entÂwickelÂte das FiÂnanzÂamt das sog. „MannÂheimer SysÂtem“, das geÂzielt wohlÂhaÂbende Juden bei der ReichsÂfluchtÂsteuer aufs Korn nahm. Diese Steuer mussÂten alle AusÂwanÂderer mit einem gewisÂsen VerÂmöÂgen beÂzahÂlen, aber die Juden wurÂden zur AusÂwanÂderung geÂdrängt, ja ab 1938 prakÂtisch geÂzwunÂgen. Es war den BeÂamÂten also klar, wer durch die vor Ort ersonÂnenen VerÂschärÂfunÂgen geÂtrofÂfen wurde, und das wurde intern auch ganz offen bekannt und beÂjaht. Viele BeÂamÂten sahen es als ihre höchste AufÂgabe an, dem Reich Geld für die zahlÂreiÂchen AufÂgaben zu verÂschaffen: für ArÂbeitsÂbeschafÂfung, AufÂrüsÂtung, ab 1939 für den Krieg. Dabei waren längst nicht alle diese BeÂamÂten ParÂteiÂaktiÂvisÂten. Wie weit gehässige AntiÂsemiÂten gehen konnÂten, zeigt der Fall des LeiÂters der StuttÂgarter DeÂvisenÂstelle Ernst NieÂmann. Er hat sein Amt prakÂtisch mit „Mein Kampf“ unterm Arm geleiÂtet und schreckÂte vor einer VielÂzahl von RechtsÂbrüchen nicht zuÂrück; durch willÂkürÂliche VerÂhafÂtunÂgen, ErÂpressunÂgen und sysÂtemaÂtische Sippenhaft wollÂte er DeviÂsen für die AufÂrüsÂtung erÂlanÂgen. ReinÂhold Maier, der erste MinisÂterÂpräÂsident von Baden-Württemberg, nannte Niemann später das „SchreckÂgeÂspenst der ganzen jüdiÂschen BeÂvölÂkerung von WürtÂtemÂberg“.
Ein wesentÂliÂches ErÂgebÂnis Ihrer Arbeit ist, dass die FiÂnanzÂverÂwalÂtung keinesÂwegs ein „sauberes“ Amt war, sondern sich an der EntÂzieÂhung, VerÂwalÂtung und VerÂwerÂtung jüdiÂscher VerÂmögen aktiv beÂteiÂligte. Wie konnte das SelbstÂbild der UnÂbeÂstechÂlichÂkeit und SauÂberÂkeit nach 1945 überÂhaupt entÂsteÂhen und lange Zeit aufÂrecht geÂhalÂten werden?
Die an der VerÂmögensÂverÂwerÂtung beÂteiÂligÂten BeÂamÂten beriefen sich (wie so vieÂle anÂdere nach 1945) daÂrauf, leÂdigÂlich AnordÂnunÂgen höheÂrer Stellen ausÂgeÂführt zu haben. Die BeÂamten sahen sich als BefehlsÂempÂfänÂger, die auf den Staat verÂpflichÂtet waÂren und ähnÂlich wie SolÂdaÂten eiÂnen AmtsÂeid geleistet hatten. Ein StuttÂgarter Gericht befand außerÂdem im Jahr 1949, dass ja die Gestapo das Unrecht der DeÂporÂtaÂtioÂnen zu verantÂworten hätte. Man schob die Schuld also auf „die Nazis“: auf die Partei und die von der SS durchÂsetzte PoliÂzei. Diese SchuldÂzuÂweiÂsung an verÂgleichsÂweise weÂnige erÂlaubÂte die ReinÂwaschung vieÂler andeÂrer. Das lag im Trend der Zeit nach 1945, ebenso das BeÂschweiÂgen und BeÂschöÂnigen. Den FiÂnanzÂämÂtern kam dabei ihr tradiÂtioÂnelÂles AnÂsehen der anÂgebÂlichen UnbeÂstechÂlichÂkeit des deutÂschen BeÂamten zugute, vielÂleicht auch der UmÂstand, dass man mit FinanzÂämtern allÂgemein eher einen oft umÂständÂlichen, aber doch im Grunde eher harmÂlosen ForÂmularÂkrieg assoziÂiert. Auch die Opfer benannÂten in ihren ÄuÂßerunÂgen nach 1945 oft GeÂstaÂpoÂbeamte, SA- und SS-Männer als Täter, die ihnen beÂsonders in ErinÂnerung geblieÂben waren, sehr selten aber FiÂnanzÂbeamÂte. Das hing auch damit zuÂsamÂmen, dass GewaltÂerfahÂrungen oder der schwieÂrige NeuÂanfang der AusÂwandeÂrer im AusÂland in der Regel die ErinÂnerung an die zuvor erÂfahÂrene fiÂnanÂzielle AusÂplünÂderung überÂlagerÂten. Die MehrÂzahl der FinanzÂbeamÂten hielt sich an die kühle, sachÂliche FachÂsprache ihres BerufsÂstandes, sodass sie als HanÂdelnÂde gleichÂsam hinter den BuchÂstaben des GesetÂzes zuÂrückÂtraten. Man setzte zwar UnÂrecht um, wahrte dabei aber die FasÂsade des bürÂgerÂlichen RechtsÂstaates. Dies war vielÂleicht überÂhaupt der wichÂtigste Beitrag der FiÂnanzÂverÂwaltung zum NS-UnÂrechtsÂregime: dass sie verÂbreÂcheÂrische VorÂgaben in gewohnÂte büroÂkratische ProÂzesse überÂsetzte, die das bieÂdere Gesicht des unÂparteiÂischen und an das Recht geÂbunÂdeÂnen BeÂamten trugen.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Zeit.
Das InterÂview führÂte schriftlich Charlotte Kempf.